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462 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
ähnlich dem Vierkanter im Flach- und Hügelland südlich der Donau, im Betrach-
ter zu erzeugen vermochte, ließ sich im Wochenblatt als „Bollwerk des deutschen
Bauerntums“ ideologisch in Wert setzen.231
Das Bild des traditionell anmutenden, zugleich technisch modernisierten Hofes
fand im Plan einer „heimischen Hoftype“ für die Aufbaugemeinschaft Ybbsitz sei-
nen Niederschlag (Abbildung 5.21). Die Bausachverständigen der Landesbauern-
schaft Donauland orientierten sich zwar offensichtlich am Doppel-T-Hof ; doch
bei genauerer Betrachtung zeigen sich erhebliche Unterschiede, etwa hinsichtlich
der Anordnung der Gebäudeteile : Um den auf ein Mehrfaches der bisherigen Flä-
che vergrößerten Rinderstall in das Ensemble einzufügen, rückt der Stalltrakt auf
die Seite, der Wohntrakt in die Mitte. Damit wird der Gang, der durch das Wohn-
haus mit Verbindung zum Stalltrakt führt, zum zentralen Kreuzungspunkt der –
nunmehr vielfach verkürzten
– alltäglichen Wege der auf dem Hof arbeitenden und
lebenden Personen ; von der Stube aus kann das Betriebsleiterpaar umfassender
kontrollieren, wer wann und wo welchen Tätigkeiten nachgeht. Auch die Gebäu-
deproportionen ändern sich erheblich : Während die bestehenden Doppel-T-Höfe
mehr lang als breit sind, wird beim Modellhof bei etwa gleicher Länge der Stall-
und Scheunentrakt in der Breite beträchtlich ausgedehnt – sinnfälliger Ausdruck
der Aufstockung des Vieh- und Maschinenbestandes ; zudem werden alle Trakte
um ein Stockwerk erhöht. Die äußere Gestaltung wertet ästhetische gegenüber
funktionalen Maßstäben auf : So wird der Misthaufen vor dem Wohntrakt durch
eine Düngersammelanlage neben den Stallungen ersetzt ; stattdessen ziert ein Vor-
garten den Platz vor dem Eingang zum blumengeschmückten, mit Fensterläden
versehenen Wohnhaus. Nicht nur außen, sondern auch im Inneren unterscheidet
sich das Modell vom Baubestand : Fenster mit vergrößerten Glasflächen lassen
mehr Tageslicht in die Räume. Für betriebswirtschaftlich aufgewertete Arbeits-
gänge – etwa die Verarbeitung des betriebseigenen Futters und der gewonnenen
Milch – stehen eigene Arbeitsräume bereit : Futterküche, Milchkammer, Kannen-
raum. Die neu errichteten Gärfutterbehälter finden im Scheunentrakt Platz. Mit
der Abtrennung der Küche von der Wohnstube wird ein Gutteil der Frauenarbeit
vom sonstigen Alltagsleben separiert, tendenziell abgewertet und als Nicht-Arbeit
deklariert – und damit die „Hausfrauisierung“ der Bäuerin befördert.232 Anstatt
des Aborts im Stall oder im Freien, wie in 130 von 166 Höfen der Fall,233 findet
sich im geplanten Wohngebäude ein Klosett. Kurz, die Bautradition, der der Plan
für Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu folgen vorspiegelte, ist keine authentische,
sondern eine erfundene.234 Entfernt an die Form des regionalen Doppel-T-Hofes
angelehnt, folgt der Entwurf vor allem einer betriebswirtschaftlichen Rationalität
sowie städtisch-bürgerlichen Vorstellungen von Ländlichkeit. Dabei entwarfen die
Planer die „heimische Hoftype“ nicht als bauliche Hülle ; ihrem Verständnis nach
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937