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548 Das „Landvolk“ und seine Meister
Behörden, dem NSDAP-Propagandaleiter als Gemeindearzt – öffentliche Aner-
kennung einbrachte. Andererseits rangierten Dorfschullehrer, Gemeindesekretär
und Gemeindearzt mangels Landbesitzes in der bäuerlichen Besitzhierarchie auf
der Stufe der Kleinhäusler/-innen. Der autoritative, stellenweise schwülstige Stil,
in dem der Zeitungsartikel gegen die „Raunzer, auch Meckerer genannt“, gehalten
ist, lässt einen bildungsbürgerlichen Habitus durchschimmern. Dadurch engt sich
der Kreis möglicher Verfasser/-innen auf zwei ein : den 1938 zum Schulleiter und
Bürgermeister aufgestiegenen Volksschullehrer und den langjährigen Gemeinde-
arzt. Da der Volksschullehrer bereits nach wenigen Monaten an einen anderen
Dienstort versetzt wurde, bleibt als wahrscheinlicher Verfasser des Artikels der
Arzt, der als „Alter Kämpfer“ der NSDAP nach dem „Anschluss“ zum örtlichen
Propagandaleiter avanciert war.225
Der „Meckerer“-Artikel in der St. Pöltner Zeitung markierte eine Legitimati-
onskrise nationalsozialistischer Herrschaft vor Ort. Herrschaft scheint dann am
sichersten, wenn sie nicht im Gerede ist. Das Schweigen kennzeichnet jenen Zu-
stand, in dem die Beherrschten die Amtsmacht der lokalen Herrschaftsträger ohne
Widerrede anerkennen – und in ihrer Willkür verkennen.226 Doch unter dem
Mantel des Schweigens schwelte ein Konflikt zwischen den neuen, nationalsozia-
listischen und den alten, christlichsozialen Machthabern in der Gemeinde. Dieser
Konflikt, der mit den erdrutschartigen Wahlerfolgen der NSDAP in den frühen
1930er Jahren seinen Anfang genommen hatte, fand mit der Machtübernahme
der lokalen Nationalsozialisten im März 1938 und der folgenden „Gleichschal-
tung“ des dörflichen Vereinswesens kein Ende. Er bestimmte – wenn auch mit
vertauschten Rollen – weiterhin die mehr verdeckten als offenen Machtkämpfe
im Dorf.227 Beide Fraktionen verband die Ansicht, dass Macht einen lohnenden
Streitgegenstand darstelle. Was sie trennte, war die Kluft zwischen ihren Standor-
ten in der ländlichen Gesellschaft : Während das Ansehen des überwiegenden Teils
der NS-Führung als Dorfintelligenz auf dem kulturellen Kapital der Bildung grün-
dete, speiste sich die Ehre der 1938 von ihren kommunalen Ämtern abgesetzten
bäuerlich-gewerblichen Honoratioren vor allem aus dem ökonomischen Kapital
eines Landwirtschafts- oder Gewerbebetriebs. Die Strategie der NS-Dorfelite war,
sich des Schweigens der Vertreter des christlichsozialen „Systems“, etwa durch die
Vergabe der kommunalen Jagdgebiete, zu versichern – und darüber ihrer Herr-
schaft stillschweigend Anerkennung zu verschaffen.228
Im Sommer 1939 war jedoch die Legitimität der nationalsozialistischen Herr-
schaft ins Gerede gekommen, der latente Konflikt in einen manifesten umge-
schlagen. Vielleicht trug der sich abzeichnende, in der ländlichen Bevölkerung
unpopuläre Angriffskrieg des Deutschen Reichs gegen Polen und die West-
mächte – manche sprechen von einer „Kriegspsychose“ auf dem Land – zu dieser
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937