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557Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
Wie der erste Brief folgte auch der zweite über weite Strecken einer von persön-
lichen Befindlichkeiten abgehobenen, auf die Lösung gesamtstaatlicher Probleme
bezogenen Perspektive. Zwar sprach Leitner anfangs „im Namen unserer Gebirgs-
bauern“. Doch argumentierte er danach ganz im Stil fachmännischer Abhandlun-
gen, etwa wenn er Lösungen des bergbäuerlichen Einkommensproblems erörterte.
Sorgfältig abwägend betrachtete er das Problem aus mehreren Blickwinkeln
– nicht
nur dem bergbäuerlichen, sondern auch aus Sicht der Lohnarbeiterschaft und Ge-
werbetreibenden. Dabei folgte er der Maxime der ‚gerechten‘ Lastenverteilung im
nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaat ; auch Arbeiter- und Gewerbehaushalte
hätten ein Recht auf angemessenes Einkommen. In ähnlicher Weise argumentierte
eine 1939 in der Fachpresse erschienene und über die Tages- und Wochenpresse
auszugsweise verbreitete Studie zur Lage der Gebirgsbauern in der Ostmark, die eben-
falls das Drehen an der Preisschraube ablehnte und in der Steuersenkung – das
heißt, in der Umverteilung auf Kosten der Allgemeinheit – einen geeigneten Lö-
sungsansatz des Bergbauernproblems sah.242 Diese einander ähnelnden Argumen-
tationsmuster verweisen einmal mehr auf die Vertrautheit des Verfassers mit Dis-
kursen, in die er sich über Presseerzeugnisse eingelesen hatte und über seine Briefe
einschrieb. Dementsprechend sprach er selten für sich, sondern meist für Andere
oder das Ganze – ein häufiges Merkmal „subalterner Identitäten“.243
Nur ein einziges Mal trat er im Brief selbst als Subjekt auf : „Ich arbeite jetzt
ein halbes Jahr im Holzschlag, einerseits gezwungen durch Notlage in der ich
mich befinde, anderseits um die Lebens- und Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft
gründlich zu kennen.“ Saisonale Lohnarbeit als Holzknecht war für Bauernsöhne,
Kleinhäusler und kleinbäuerliche Betriebsbesitzer im Voralpengebiet die Regel.244
Im Brief erscheint sie jedoch als Ausnahme – als das Andere, Nicht-Bäuerliche,
Proletarische. Der Holzknecht wurde gemeinhin mit dem freien, ‚wilden‘ Leben
assoziiert – im Gegensatz zum Bauernknecht, der am Hof zum Gehorsam ge-
genüber seinem Dienstgeber verpflichtet war.245 Für den 48-jährigen Hofbesitzer
stellte sich die Situation weniger romantisch dar : Im Winter als Lohnarbeiter im
Holzschlag arbeiten zu müssen, markierte die für ihn bedeutsame Grenze zwi-
schen dem ‚echten Bauern‘, der sich und seine Familie vom eigenen Grundbesitz
versorgen konnte, und jenen unterbäuerlichen Existenzen, die auf außerlandwirt-
schaftliche und -häusliche Einkünfte angewiesen waren. Leitner entpuppte sich
in seinem Brief als Grenzgänger : Einerseits beanspruchte er in Abgrenzung zur
Arbeiterschaft seine Zugehörigkeit zu den ‚echten Bauern‘ ; andererseits gestand er
ein, „gezwungen durch Notlage“ diesen Anspruch nicht einlösen zu können. Die
Rechtfertigung, die „Lebens- und Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft“ kennen-
lernen zu wollen, diente ihm wohl zur subjektiven Abfederung dieses objektiven
Missverhältnisses.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937