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Nach 1918
Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
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557Die imaginierte „Volksgemeinschaft“ Wie der erste Brief folgte auch der zweite über weite Strecken einer von persön- lichen Befindlichkeiten abgehobenen, auf die Lösung gesamtstaatlicher Probleme bezogenen Perspektive. Zwar sprach Leitner anfangs „im Namen unserer Gebirgs- bauern“. Doch argumentierte er danach ganz im Stil fachmännischer Abhandlun- gen, etwa wenn er Lösungen des bergbäuerlichen Einkommensproblems erörterte. Sorgfältig abwägend betrachtete er das Problem aus mehreren Blickwinkeln  – nicht nur dem bergbäuerlichen, sondern auch aus Sicht der Lohnarbeiterschaft und Ge- werbetreibenden. Dabei folgte er der Maxime der ‚gerechten‘ Lastenverteilung im nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaat ; auch Arbeiter- und Gewerbehaushalte hätten ein Recht auf angemessenes Einkommen. In ähnlicher Weise argumentierte eine 1939 in der Fachpresse erschienene und über die Tages- und Wochenpresse auszugsweise verbreitete Studie zur Lage der Gebirgsbauern in der Ostmark, die eben- falls das Drehen an der Preisschraube ablehnte und in der Steuersenkung  – das heißt, in der Umverteilung auf Kosten der Allgemeinheit  – einen geeigneten Lö- sungsansatz des Bergbauernproblems sah.242 Diese einander ähnelnden Argumen- tationsmuster verweisen einmal mehr auf die Vertrautheit des Verfassers mit Dis- kursen, in die er sich über Presseerzeugnisse eingelesen hatte und über seine Briefe einschrieb. Dementsprechend sprach er selten für sich, sondern meist für Andere oder das Ganze  – ein häufiges Merkmal „subalterner Identitäten“.243 Nur ein einziges Mal trat er im Brief selbst als Subjekt auf : „Ich arbeite jetzt ein halbes Jahr im Holzschlag, einerseits gezwungen durch Notlage in der ich mich befinde, anderseits um die Lebens- und Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft gründlich zu kennen.“ Saisonale Lohnarbeit als Holzknecht war für Bauernsöhne, Kleinhäusler und kleinbäuerliche Betriebsbesitzer im Voralpengebiet die Regel.244 Im Brief erscheint sie jedoch als Ausnahme  – als das Andere, Nicht-Bäuerliche, Proletarische. Der Holzknecht wurde gemeinhin mit dem freien, ‚wilden‘ Leben assoziiert  – im Gegensatz zum Bauernknecht, der am Hof zum Gehorsam ge- genüber seinem Dienstgeber verpflichtet war.245 Für den 48-jährigen Hofbesitzer stellte sich die Situation weniger romantisch dar : Im Winter als Lohnarbeiter im Holzschlag arbeiten zu müssen, markierte die für ihn bedeutsame Grenze zwi- schen dem ‚echten Bauern‘, der sich und seine Familie vom eigenen Grundbesitz versorgen konnte, und jenen unterbäuerlichen Existenzen, die auf außerlandwirt- schaftliche und -häusliche Einkünfte angewiesen waren. Leitner entpuppte sich in seinem Brief als Grenzgänger : Einerseits beanspruchte er in Abgrenzung zur Arbeiterschaft seine Zugehörigkeit zu den ‚echten Bauern‘ ; andererseits gestand er ein, „gezwungen durch Notlage“ diesen Anspruch nicht einlösen zu können. Die Rechtfertigung, die „Lebens- und Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft“ kennen- lernen zu wollen, diente ihm wohl zur subjektiven Abfederung dieses objektiven Missverhältnisses.
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Schlachtfelder Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Schlachtfelder
Subtitle
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Author
Ernst Langthaler
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2016
Language
German
License
CC BY-NC 3.0
ISBN
978-3-205-20065-9
Size
15.5 x 23.5 cm
Pages
948
Categories
Geschichte Nach 1918

Table of contents

  1. Vorwort 9
  2. 1. Akteure in Agrarsystemen 11
  3. Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
    1. 1.1 Von (Re-)Aktionsmustern zu Interaktionsfeldern 11
    2. 1.2 Agrarsysteme und Landwirtschaftsstile im Kräftefeld 16
    3. 1.3 Instrumente der Feldvermessung 26
  4. 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
  5. Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
    1. 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
    2. 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
    3. 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
    4. 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
    5. 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
    6. 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
    7. 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
    8. 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
    9. 2.9 Zusammenfassung 149
  6. 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
  7. Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
    1. 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
    2. 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
    3. 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
    4. 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
    5. 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
    6. 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
    7. 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
    8. 3.8 Zusammenfassung 253
  8. 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
  9. Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
    1. 4.1 Die Steuerung der „Landflucht“ 257
    2. 4.2 Die Steuerung des „Reichseinsatzes“ 277
    3. 4.3 Arbeit als alltägliches Kräftefeld 298
    4. 4.4 Gerechter Lohn oder Ausbeutung ? 322
    5. 4.5 „Menschenökonomie“ vor Ort 347
    6. 4.6 Zusammenfassung 371
  10. 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
  11. Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
    1. 5.1 „Bauerntum“ und Technik – (k)ein Widerspruch ? 375
    2. 5.2 „Bauernstolz“ oder Klientenmentalität ? 385
    3. 5.3 Staatshilfe als „Auslese“ 404
    4. 5.4 „Aufrüstung“ in den Bergen 436
    5. 5.5 Kapitaleinsatz vor Ort 472
    6. 5.6 Zusammenfassung 494
  12. 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
  13. Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
    1. 6.1 Das agronomische Expertensystem 497
    2. 6.2 Vordenker des „Aufbaus“ 506
    3. 6.3 Bindeglied zwischen Führung und „Landvolk“ ? 518
    4. 6.4 Wirtschaftsberatung vor Ort 534
    5. 6.5 Die imaginierte „Volksgemeinschaft“ 543
    6. 6.6 Zusammenfassung 566
  14. 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
  15. Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
    1. 7.1 Der Markt und seine (Un-)Ordnung 570
    2. 7.2 Lange Schatten, kurzer Prozess 585
    3. 7.3 Öffentliche Bewirtschaftung, privates Wirtschaften 593
    4. 7.4 Die verlorene „Erzeugungsschlacht“ ? 620
    5. 7.5 „Kriegserzeugungsschlacht“ vor Ort 642
    6. 7.6 Vom Wert der Landarbeit 669
    7. 7.7 Zusammenfassung 695
  16. 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
  17. Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
    1. 8.1 Jenseits von Traditionalität und Modernität 699
    2. 8.2 Großbritannien und die Ostmark im Krieg 709
    3. 8.3 Österreich zwischen Krise und Boom 726
    4. 8.4 Versuchsstation des völkischen Produktivismus 742
  18. Anmerkungen 755
  19. Tabellenanhang 824
  20. Farbabbildungsanhang 849
  21. Quellen- und Literaturverzeichnis 865
  22. Abkürzungsverzeichnis 918
  23. Tabellenverzeichnis 920
  24. Abbildungsverzeichnis 927
  25. Personenregister 933
  26. Ortsregister 934
  27. Sachregister 937
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