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562 Das „Landvolk“ und seine Meister
nicht möglich, mich an einen, Ihnen beliebigen Tage mich in Ihre Kanzlei vorladen
zu lassen, daß ich Ihnen über diese Fälle mündlich berichten kann. Ich bin jeden Tag
bereit, aber nächsten Donnerstag nicht, weil da Holzabrechnung ist, wo ich hier sein
muß. Nochmals um eine mündliche Außsprache bittend, schließt Leitner Leopold.
Heil Hitler ! [Schreibfehler im Original]“251
Mit diesem Bittbrief zugunsten dreier in Not geratener Familien eröffnet Leitner
einen Einblick in das Beziehungsgeflecht, das ihn in die ländliche Gesellschaft
einbettete (Abbildung 6.11). Mit jeder dieser Familien war der Briefschreiber mehr
oder weniger eng verbunden. Die loseste Beziehung bestand mit der Bauernfamilie
aus der Nachbargemeinde Schwarzenbach an der Pielach. Weitaus enger, nämlich
über eine Nachbarschafts- und eine wechselseitige Bürgschaftsbeziehung, war er
mit der Bauernfamilie in Frankenfels verbunden. Mit dem Frankenfelser Gemein-
desekretär verband ihn eine langjährige Bekanntschaft, die sich in wiederholten
Besuchen äußerte.252 Dieser Kontakt mit einem vor Ort tätigen staatlichen Amts-
träger vermittelte ihm Sichtweisen aus dem Inneren des Behördenapparats, die –
wie etwa das Vertrauen in untergeordnete und das Misstrauen gegenüber überge-
ordneten Ämtern – in seine Briefe einflossen. Die Leitner-Familie war, über die
bereits genannte benachbarte Familie hinaus, eng mit der übrigen Nachbarschaft
verflochten. Dieses Netz diente nicht nur zur Mobilisierung von Arbeitskräften zu
den Spitzenzeiten, sondern erwies auch in anderen Wechselfällen des Lebens seine
Tragfähigkeit. Die drei Bürgen für Darlehen Leitners waren allesamt Bauern aus
der unmittelbaren Nachbarschaft. Der Kreditnehmer selbst haftete wiederum für
die Schulden von zwei seiner Bürgen. Zudem war einer der benachbarten Bürgen
Leitners nach einem Viehunglück mit 40 Reichsmark eingesprungen. Eine ähn-
liche Wechselbeziehung bestand mit einem in der Gemeinde ansässigen Schlos-
sermeister, dem Leitner nicht nur 25 Reichsmark für Reparaturarbeiten schuldete,
sondern für den er auch eine Bürgschaft eingegangen war. Schließlich schuldete
der Tatzgern-Bauer einer benachbarten Kleinhäuslerin 100 Reichsmark, vermut-
lich für eine Dienstleistung des kürzlich verstorbenen Ehemannes.
Auch Leitners Verwandtschaftsbeziehungen erfüllten mehrfache Funktionen.
Die Ehefrau des Bruders diente 1921 als Taufpatin der Tochter, die, einem ver-
breiteten Muster der Namengebung folgend, auf den Vornamen der Schwägerin
getauft wurde.253 Wie Nachbarschaften dienten auch Verwandtschaften zur Mo-
bilisierung von Hilfe in Notfällen. Dem Schwiegervater in der Nachbargemeinde
Schwarzenbach an der Pielach und dem weiter entfernt lebenden Schwager schul-
dete Leitner 217 Reichsmark für die Aushilfe anlässlich eines Hagelschadens und
eines Viehunglücks. Weitere Schulden hatte er bei der örtlichen Raiffeisenkasse
durch ein 1936 gegebenes und kurz nach dem „Anschluss“ aufgestocktes Darlehen
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937