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564 Das „Landvolk“ und seine Meister
für Viehankäufe von 466 Reichsmark. Für bezogene Waren und Dienstleistungen
stand er bei insgesamt zehn Kaufleuten, Handwerkern und Händlern aus Franken-
fels und den Nachbargemeinden mit 308 Reichsmark in der Kreide. Privaten Geld-
verleihern aus der näheren Umgebung schuldete er 360 Reichsmark. Schließlich
forderte das Finanzamt Steuerrückstände von 87 Reichsmark. Insgesamt beliefen
sich die finanziellen Verbindlichkeiten 1939 auf 1.578 Reichsmark.254
Leitners multifunktionales Beziehungsgeflecht war von wechselseitigen Bürg-
schaften durchzogen. Das mit einer Bürgschaft verbundene Risiko, für die Schul-
den des Kreditnehmers einstehen zu müssen, konnte auf unterschiedliche Arten
verringert werden : durch wechselseitige Bürgschaften, aber auch durch Bürg-
schaften entlang multifunktioneller Nachbarschafts- oder Geschäftsbeziehungen.
Die wechselseitige, moralökonomisch abgestützte Abhängigkeit von Bürge und
Schuldner schuf jenes Maß an Vertrauen, das für das Eingehen einer Bürgschafts-
verpflichtung erforderlich war, und verringerte das Ausfallsrisiko. Auf diese Weise
konnten ländliche Personen-Netzwerke das Beziehungs- und Vertrauenskapital
zu Geldkapital konvertieren. Neben derartigen reziproken Beziehungen bestan-
den auch eher marktmäßige Beziehungen, etwa zu Handwerkern, Händlern und
Kreditgebern, sowie die Steuerverpflichtung an den umverteilenden Staat. Im Fall
Leitners lagen Reziprozität, Redistribution und Markttausch als Grundmuster der
Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen in der ländlichen Gesellschaft im
Gemenge. In diesem Zusammenhang erscheint der dritte Brief nicht als Einzelakt,
sondern eingebunden in eine Serie wechselseitiger Tauschbeziehungen zwischen
einander nahestehenden Personen. Der Charakter des Bittbriefs als reziproker
Akt wird am deutlichsten am Fall des Vaters zweier zur Wehrmacht eingerückter
Söhne, mit dem den Bittsteller nicht nur die für den flexiblen Austausch von Ar-
beitskraft unverzichtbare Nachbarschaft, sondern auch eine wechselseitige Bürg-
schaft verband. Da der Besitzer der kleinen Landwirtschaft „selbst nimmer recht
gesund ist, so muß er eine fremde Arbeitskraft einstellen, denn das beschwerliche
Holzfuhrwerk wie’s im Gebirge ist, kann er allein nicht verrichten. Bitte wäre es
nicht möglich, während der Dienstzeit seiner Söhne im eine kleine Beihilfe zu
gewähren ?“ Angesichts der vielfältigen Beziehungen mit dem in Not geratenen
Hofbesitzer wäre die erbetene Beihilfe letztlich auch dem Bittsteller selbst zugu-
tegekommen.
Auf einer in den 1930er Jahren entstandenen Porträtfotographie posiert Leitner
vor der Kamera mit wichtigen Insignien des ‚echten Bauern‘ – Ehefrau, Kinder,
Taschenuhr. Der Ziehsohn hat seinen Arm durch eine als Inszenierung erkennbare
Geste auf die Lehne des Stuhles, auf dem der Ziehvater Platz genommen hat, ge-
stützt ; dieses Arrangement lässt ihn als logischen Hoferben erscheinen (Abbildung
6.12). Auf den ersten Blick erweckt die Fotografie den Eindruck einer festgefügten
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937