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590 Ordnung und Chaos des Marktes
sondern auch auf die lückenhafte Überlieferung des Aktenbestandes verweist (Ta-
belle 7.6, Anhang).
Welche der Unterschiede zwischen den Fällen waren vor-, welche nachrangig ?
Den Richtern ging es in der Urteilsfindung vorrangig um die Entscheidung, ob ein
schwerer oder leichterer Verstoß gegen die KWVO vorlag ; entsprechend wurde
eine Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe verhängt. Führt uns die richterliche Pers-
pektive zum Hauptunterschied der Fälle sondergerichtlich Verurteilter ? Um diese
Frage zu beantworten, führen bloße Häufigkeitsauszählungen eines Merkmals
nach dem anderen kaum weiter ; vielmehr müssen wir die Wechselbeziehungen
der Merkmale zugleich erfassen. Zu diesem Zweck ordnen wir die Fälle und ihre
Merkmalsausprägungen, je nach (Un-)Ähnlichkeit, in einem mehrdimensionalen
Raum der ländlichen Schattenwirtschaft an. Die erste Dimension, die 18 Prozent
der Streuung erklärt, ist entgegen der Erwartung nicht von der richterlichen Un-
terscheidung zwischen schweren und leichteren Verstößen gegen die KWVO be-
stimmt. Sie unterscheidet einerseits Personen mit Grundbesitz, das heißt (unter-)
bäuerliche Betriebsleiter/-innen, häufig mit Nebengewerbe, aus den Kreisen St.
Pölten und Amstetten, die aufgrund der KWVO wegen „Schwarzschlachtung“
von Schweinen aus milderungswürdigen Motiven 1942 in Verfahren mit zwei
Angeklagten zu mittleren Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt wurden. Auf der
anderen Seite dieser Dimension finden sich häufig Personen ohne Grundbesitz,
das heißt in den 1910er und 1920er Jahren geborene, durchwegs ledige Bauern-
söhne und -töchter, Landarbeiter/-innen und Gutsverwalter, vorzugsweise aus dem
Kreis Nikolsburg, die aufgrund der VRStVO wegen Verfütterung von Getreide
und missbräuchlichem Umgang mit sonstigen Produkten in erheblichem Ausmaß
1944 in Verfahren mit vier Angeklagten geringe Gefängnis- und keine Geldstrafen
erhielten. Diese Dimension bezeichnet einen Klassenunterschied, der die Kriegs-
wirtschaftsdelikte (unter-)bäuerlicher Grundbesitzer/-innen und landloser Lohn-
empfänger scheidet.
Auch die zweite Dimension, die weitere 13 Prozent der Streuung erklärt, führt
nicht zur erwarteten Unterscheidung zwischen schweren und leichteren „Kriegs-
wirtschaftsverbrechen“. Sie beschreibt das Spektrum zwischen dem „Schleich-
händler“ aus dem Kreis Zwettl, der wegen wiederholten Verstoßes gegen die
Preisbestimmungen aus eigennützigen Motiven und unter Verleitung weiterer Per-
sonen
– trotz überdurchschnittlicher Ablieferungsleistungen ihrer großbäuerlichen
Betriebe – zu mittleren bis hohen Geldstrafen verurteilt wurde, und dem durch
Falschangaben sein Amt missbrauchenden Reichsnährstands- oder Gemeinde-
funktionär mit Parteibuch aus dem Kreis Melk. Ich lese diese Dimension als Orga-
nisationsunterschied, der die Kriegswirtschaftsdelikte öffentlicher Funktionsträger
und im Privaten agierender Geschäftemacher scheidet.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937