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612 Ordnung und Chaos des Marktes
sowie einiges Garten-, Weide- und Bauland, unterstand der Gutsverwaltung. Auf
dem Gut wurden 14 bis 16 Personen, darunter auch Kriegsgefangene, beschäf-
tigt – und mussten verköstigt werden ; zudem wurde das Schlossgebäude für die
Kinderlandverschickung beschlagnahmt und die Ankunft von 70 bis 80 Personen
angekündigt. Um einen Teil des gutsbetrieblichen Nahrungsbedarfes selbst zu er-
zeugen, wurden vier Schweine und einige Dutzend Stück Geflügel gehalten ; diese
ernährten sich großteils aus Küchenabfällen. Doch zur Jahreswende 1941/42 kam
die Gutsverwaltung in eine Zwickmühle : Einerseits schrieb das Ernährungsamt
dem Gut die Ablieferung von Eiern vor. Andererseits wurde, trotz Vorsprache bei
Bürgermeister und Ortsbauernführer, die Zuweisung von Futtermitteln verweigert.
Kappler gab daraufhin Anweisung, das bei den bäuerlichen Hofbesitzern und -be-
sitzerinnen der Umgebung begehrte Brennholz aus dem Schlosspark gegen Fut-
termittel einzutauschen.131 Es dauerte nicht lange, bis ein Gutsarbeiter, ein „Partei-
genosse“, darüber Meldung erstattete : Wiederholt hätten Bauern der Umgebung
Säcke voll Brotgetreide – dessen Verfütterung verboten war – angeliefert ; zudem
hätte der Gutsverwalter Geselchtes, Speck und andere Fleischwaren geschenkt er-
halten. Da die Anzeige der NSDAP-Ortsgruppenleitung bei der Gendarmerie zu-
nächst im Sand zu verlaufen drohte, drängte die NSDAP-Kreisleitung den Land-
rat in Tulln zum Einschreiten.132 Offenbar war der einflussreiche Gutsverwalter
mit altösterreichisch-aristokratischem Habitus den örtlichen Parteifunktionären
ein Dorn im Auge.
Nun kamen die Ermittlungen in Gang. Reihenweise wurden Zeugen, Gutsbe-
dienstete und bäuerliche Holzabnehmer/-innen, einvernommen. Manche bestä-
tigten die Vorwürfe ; andere wiederum gaben an, lediglich für Ernährungszwecke
unbrauchbares Getreide geliefert zu haben. Kappler rechtfertigte sich unter Bei-
ziehung eines Rechtsanwalts damit, dass er nur die Anordnung, Brennholz ge-
gen Futtermittel einzutauschen, erteilt habe ; abgewickelt habe die Geschäfte der
Kanzleileiter. Zudem sei er ein Fachmann für Forstwirtschaft ; von Landwirtschaft
im Allgemeinen und Getreidewirtschaft im Besonderen verstehe er wenig. Zu gu-
ter Letzt verwies er auf seine Ehre als hoch dekorierter Weltkriegsoffizier adeliger
Abstammung.133 Diese Verteidigungsstrategie fand vor dem Sondergericht weit-
gehend Anerkennung : Das Fehlverhalten des Angeklagten wurde teilweise den
übrigen Gutsbediensteten angelastet ; er habe sich wegen der Lieferverpflichtung
von Eiern und dem Fehlen von Futtermitteln in einer Zwangslage befunden ; er sei
hauptsächlich mit der Forst-, kaum jedoch mit der Landwirtschaft befasst gewe-
sen ; die zweckwidrig verwendeten Futtermittel seien durch die Eierlieferung und
den Fleischzuwachs der Ernährungswirtschaft nicht entzogen worden. Mangels
„böswilliger“ Gefährdung der öffentlichen Bedarfsdeckung rückte das Gericht von
der Anklage wegen Verbrechens gegen die KWVO ab und sah lediglich ein Ver-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937