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615Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
Innerhalb der kleinsten Gruppe der wegen Kriegswirtschaftsdelikten vor dem
Sondergericht Verurteilten, der bäuerlich-amtlichen Falschmelder, steht im Zentrum
der Fall des 1893 geborenen Ignaz Zehner, der zusammen mit seiner Ehefrau in
Würnsdorf, Kreis Melk, eine Landwirtschaft mit dreieinhalb Hektar sowie einen
Wagnereibetrieb führte. 1942 verurteilte ihn das Sondergericht beim Landgericht
Wien unter dem Vorsitz von Richter Wotawa wegen Amtsmissbrauchs in Ver-
bindung mit einem Verbrechen gegen die KWVO zu acht Monaten schwerem
Kerker. Das Gericht betrachtete es als erwiesen, dass der Verurteilte als amtlicher
Wieger bei Hausschlachtungen mehrfach Schlachtgewichte gefälscht hatte. Als
mildernd wurden das Schadensausmaß, der persönliche Eindruck des Angeklag-
ten, das Tatmotiv – „falsch angebrachte[s] Mitleid“ –, das reumütige Geständnis,
der Militärdienst im Ersten Weltkrieg und der Umstand, dass die Söhne allesamt
im Kriegseinsatz standen, als erschwerend die Tatwiederholung und das Zusam-
mentreffen zweier Straftaten gewertet.140
Zwar ist der Fall äußerst lückenhaft dokumentiert ; so lässt sich weder der
Vorgang, der das Strafverfahren in Gang brachte, noch der Urteilsvollzug nach-
vollziehen. Dennoch wirft er ein Schlaglicht auf die dörfliche Beziehungskultur
zwischen den lokalen Funktionseliten des NS-Staates sowie der Gruppe bäuer-
licher Grundbesitzer/-innen. Zehner gehörte der NSDAP an und übte das Amt
eines Blockleiters aus. 1941 wurde er zusammen mit drei anderen bäuerlichen Be-
triebsbesitzern vom Bürgermeister zum amtlichen Wieger bestellt. In dieser Funk-
tion hatte er bei genehmigten Hausschlachtungen das Gewicht der geschlachte-
ten Tiere festzustellen ; daraus wurde dann errechnet, wie lange die betreffenden
Selbstversorger/-innen mit dem gewonnenen Fleisch auskommen mussten. Wie
die Ermittlungen ergaben, bescheinigte Zehner innerhalb von vier Monaten in
mindestens zehn Fällen Untergewichte von jeweils acht bis 40 Kilogramm, zu-
sammen 192 Kilogramm. Zwei dieser Fälle betrafen eine wechselseitige Falschbe-
scheinigung mit einem der anderen Gemeindewieger : Im ersten Fall protokollierte
Zehner für eine vom Kollegen vorgenommene Schlachtung ein Untergewicht, im
zweiten Fall revanchierte sich der Kollege bei ihm. Das Sondergericht erkannte
keinerlei Anhaltspunkte für eine „Gewinnsucht“ des Angeklagten. Vielmehr folgte
es dessen Rechtfertigung,
„[…] daß er die Taten nur begangen hat aus Mitleid mit den Bauern, die ihm erklärt
hatten, daß sie mit den ihnen zugebilligten Rationen nicht auskämen, zumal da sie ih-
ren im Felde stehenden Kindern und ihren landwirtschaftlichen Hilfsarbeitern gele-
gentlich Fleischzuwendungen machen müssten, und daß er schließlich auch durch das
schlechte Beispiel von anderen Wiegern verführt worden sei, die die Gewichtsfest-
stellung bei Hausschlachtungen ebenfalls nicht ganz genau vorgenommen hätten.“141
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937