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618 Ordnung und Chaos des Marktes
schaffte sie dem Staatsapparat und den lokalen und regionalen Amtsträgern ein
gewisses Maß an Anerkennung oder zumindest Akzeptanz vonseiten der Land-
bevölkerung
– und damit erhöhte Durchschlagskraft. Dementsprechend hieß es in
der Urteilsbegründung des Sondergerichts : Die begünstigten Bauern hätten den
Amtsmissbrauch nicht als solchen erkannt, weil sie „auf Grund ihrer ländlichen
Mentalität in dem Angeklagten […] nur einen Bauern, also einen Mann aus ih-
ren Kreisen, erblickt haben dürften, der für ihre Interessen eintrat“.146 Hier blitzt
eine wichtige Alltagsfacette des Regimes der Hausschlachtungen auf : das Er- und
Verkennen des staatlichen Amtsträgers als bäuerlichen Interessenvertreter. So ge-
sehen stand die dörfliche, bäuerliche geprägte Wirtschaftsmoral zur staatlichen,
von der Sondergerichtsbarkeit vertretenen Wirtschaftsmoral nicht gänzlich im
Widerspruch. In Ergänzung dazu minderte sie die auferlegten Lasten der staatli-
chen Bewirtschaftung – und machte sie und auf diese Weise erträglicher. Dass die
Machttechnik des Hausschlachtungsregimes für die Amtsträger vor Ort eine stän-
dige Gratwanderung zwischen dörflich-moralischer und strafrechtlicher Sanktion
erforderte, belegen die Fälle der bäuerlich-amtlichen Falschmelder.
Die Vermessung des Feldes der ländlichen Schattenwirtschaft hat Facetten
der Alltagspraxis ländlichen Wirtschaftens abseits der amtlichen Norm aufge-
deckt. Welche Erkenntnisse lassen sich darüber hinaus über das Verhältnis von
Landbevölkerung und NS-Regime gewinnen ? Antworten auf diese Frage be-
rühren unweigerlich die weithin vertretene Ansicht, das bäuerlich-katholisch
geprägte „sozialmoralische Milieu“ habe ausgesprochen „resistent“ auf die Akti-
onen der Machthaber reagiert. Folglich sei die nationalsozialistische Herrschaft
am „Schutzschild“ des Dorfes an massive Grenzen gestoßen.147 „Resistenz“ meint
eher niedrig oder unorganisierte, überwiegend reaktive sowie teils öffentliche, teils
nicht-öffentliche Formen abweichenden Verhaltens im „Dritten Reich“. Als Bei-
spiel „resistenten“ Verhaltens wird unter anderem das „Schwarzschlachten“ ange-
führt.148 Die Vorzüge des „Resistenz“-Modells, das den auf (hoch-)organisierte,
aktive und öffentliche Formen abweichenden Verhaltens verengten Widerstands-
begriff erweitert, sind selbst für dessen Kritiker/-innen unbestritten.149 Es birgt
aber auch so manchen Nachteil : Demzufolge nimmt die nationalsozialistische
Herrschaft ihren Ausgang von der Spitze des Regimes, breitet sich über den staat-
lichen Machtapparat ‚von oben nach unten‘ aus und stößt schließlich an der Basis
der ländlichen Bevölkerung auf eine Barriere – das bäuerlich-katholische Milieu,
das als gesellschaftliche Gegenmacht den Machbereich des NS-Staates im Dorf
begrenzt. Dagegen können, auch im Lichte der Forschungsergebnisse zur ländli-
chen Schattenwirtschaft in Niederdonau, mehrere Argumente ins Treffen geführt
werden : Erstens wurde Macht im „Dritten Reich“ nicht allein ‚von oben nach un-
ten‘, sondern – wenn wir der Raummetapher des „Resistenz“-Modells vorerst fol-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937