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629Die
verlorene „Erzeugungsschlacht“ ?
1939 im Folgejahr – vor allem in Melk – heftig einbrachen. Die für Unwetter und
andere Wachstumshemmnisse anfälligste Kulturpflanze war jedoch die Weinrebe :
Im Jahresrhythmus folgten auf Spitzenernten
– so 1939, 1941 und 1943
– erhebli-
che, mancherorts sogar totale Ernteausfälle – so 1940 und 1942. Der mehrjährige
Vergleich der Ernteerträge zeigt, dass manche Kulturpflanzen
– etwa Brotgetreide,
Zuckerrüben und Wein – empfindlicher als andere auf Veränderungen der jährli-
chen Wachstumsbedingungen reagierten. Weiters wurden Ausfälle einer Fruchtart
durch stabile oder überdurchschnittliche Erträge einer anderen
– wie etwa bei Zu-
ckerrüben und Wein 1943 – ausgeglichen. Dieses hier nur bruchstückhaft fass-
bare, in vollem Umfang aus jahre- und jahrzehntelanger Erfahrung aufgeschichtete
Wissen über Ertragsschwankungen war eine entscheidende Ressource ländlichen
Wirtschaftens.168 Damit vermochten Betriebsinhaber/-innen das Betriebsent-
scheidungen anhaftende Risiko, etwa im Hinblick auf das Anbauverhältnis der
Feldfrüchte, abzuschätzen.
Die Hektarerträge boten einen Maßstab für Erfolg oder Misserfolg der Produk-
tionsoffensive. Letztlich zählten jedoch für die Betriebsinhaber/-innen, aber auch
für die Strategen der „Erzeugungsschlacht“ die Gesamterträge zur Selbst- und
Marktversorgung. Um die (Natural-)Roherträge, die Produkte aus Anbauflächen
und Hektarerträgen, der einzelnen Kulturpflanzen aufeinander beziehen zu kön-
nen, diente die im Auftrag des Reichsnährstandes von einer Arbeitsgruppe um den
Hallenser Agrarökonomen Emil Woermann entwickelte Getreideeinheit (GE) als
gemeinsames Maß. Diese als „ernährungswirtschaftlicher Leistungsmaßstab“ kon-
zipierte Einheit entspricht dem durchschnittlichen Nährwert von Getreide, wobei
der Kaloriengehalt des Eiweißes gegenüber jenem von Kohlenhydraten und Fett
mit 2,5 gewichtet wird.169 Gemessen am Nährwert der Pflanzenproduktion konnte
kaum von einer Niederlage in der „Erzeugungsschlacht“ die Rede sein (Abbildung
7.14) : Zwar knickte die pflanzenbauliche Gesamtleistung 1940 ein ; doch konnte
sie nach einer Steigerung 1941 in den Folgejahren auf dem Niveau des ersten vol-
len Kriegsjahres 1940 stabilisiert werden. Die Bezirksergebnisse zeigen eine starke
Streuung : Während die getreidebauliche Leistung etwa in Melk deutlich abfiel,
bewegten sich Gän sern dorf und Gmünd meist nahe dem Durchschnitt
– mit Aus-
nahme des rasanten Abfalls von 1944.
Neben der Pflanzen- bildete die Tierproduktion die zweite Komponente der
Agrarproduktion. Hier stellt sich das allgemeine Problem der eingeschränkten Ver-
lässlichkeit der amtlichen Agrarstatistik in besonderer Weise : Die Aufsichtsorgane
vermochten Anbauflächen und Ernteerträge mit entsprechendem Aufwand eini-
germaßen zu kontrollieren. Dagegen bedurfte die Kontrolle der Viehstände und
Schlachtungen einer aufwendigen Nachschau im Stall, etwa im Zuge von „Hof-
begehungskommissionen“. Wie die Sondergerichtsverfahren über Wirtschafts-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937