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687Vom
Wert der Landarbeit
der Ostmark mangels Einheitsbewertung229 die Notwendigkeit, „die Leistungsfä-
higkeit in jedem einzelnen Falle zutreffend festzustellen [Hervorhebung im Ori-
ginal]“.230 Diese ungemein aufwendigen Erhebungen wurden von Sachbearbeitern
der Landstelle im Zuge von Betriebsbesichtigungen – bis zur Jahresmitte 1944
hatten im Bereich der Landstelle Wien 23.734 Besichtigungen stattgefunden231 –
durchgeführt ; dabei war ein umfassender Katalog von Kriterien zu beachten :
„Bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit sind Lage, Klima, Bodenbeschaffenheit,
Wirtschaftsweise und alle sonstigen Verhältnisse des Betriebes, vor allem auch die
Einnahmen aus einem landwirtschaftlichen oder gewerblichen Nebenbetrieb und
dem nichtlandwirtschaftlichen Teil eines gemischten Betriebes zu berücksichtigen.
Die Leistungsfähigkeit gleichartiger Betriebe derselben Gegend wird naturgemäß,
von Besonderheiten des einzelnen Betriebes abgesehen, im allgemeinen die gleiche
sein ; darin ist ein gewisser Anhaltspunkt für die zutreffende Feststellung der Leis-
tungsfähigkeit gegeben. Besondere Verhältnisse des Betriebes werden vielfach eine
niedrigere oder höhere Festsetzung der Leistungsfähigkeit gegenüber der üblichen
Höhe rechtfertigen. Umstände, die nur vorübergehender Natur sind und nur zu ei-
ner zeitweiligen Erhöhung oder Verminderung der Betriebseinnahmen führen, sind
im allgemeinen bei der Festsetzung der Leistungsfähigkeit unberücksichtigt zu las-
sen, weil die Leistungsfähigkeit denjenigen Betrag darstellt, der auf die Dauer für die
Verzinsung und Tilgung der Schulden aufgebracht werden kann [Hervorhebung im
Original].“232
Bei der Feststellung der „Leistungsfähigkeit“ ging es darum, das allgemeine In-
strumentarium des Verfahrens den Besonderheiten des jeweiligen Betriebes und
Haushalts anzupassen ; dementsprechend galt sie als der „Angelpunkt des gan-
zen Verfahrens“.233 Die peniblen Nachforschungen staatlicher Amtsträger in der
Stube, in den Ställen und auf den Feldern der Betriebsinhaber/-innen waren sinn-
fälliger Ausdruck der Kolonialisierung bäuerlicher Alltagswelten durch das NS-
Agrarsystem unter Mitwirkung der Antragsteller/-innen.234 Dabei wurden die
(unter-)bäuerliche Betriebs- und Haushaltsführung sowie deren Akteure aus den
alltäglichen Bezügen herausgelöst und an den amtlichen sowie agrar- und rechts-
wissenschaftlichen Maßstäben der „ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung“ und
der „Entschuldungswürdigkeit“ gemessen. Dieser bürokratisierte Ein- und Aus-
schlussmechanismus teilte den (unter-)bäuerlichen Familien mit den Entschul-
dungs- und Aufbaumitteln auch mehr oder weniger Überlebenschancen zu ; so
gesehen erscheint die von den Sachbearbeitern abgewogene „Leistungsfähigkeit“
–
und damit auch „Lebensfähigkeit“ – des jeweiligen Hofes nicht als bloße Gege-
benheit, sondern als ein Konstrukt dieses Machtdispositivs.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937