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688 Ordnung und Chaos des Marktes
Die bürokratische Konstruktion der „Leistungsfähigkeit“ rechtfertigt ein ge-
wisses Misstrauen gegenüber der Gültigkeit der betreffenden Zahlenangaben. Die
„Leistungsfähigkeit“ baute nicht – wie der auf Buchführungsaufzeichnungen be-
ruhende Reinertrag – auf einer Messung, sondern einer Schätzung auf. Sie folgte
der Annahme einer „ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung“ unter „normalen“
Bedingungen am jeweiligen Standort. Gleichwohl lag es im Interesse der Land-
stelle als staatlicher Behörde, die „Leistungsfähigkeit“ möglichst realitätsgerecht
zu konstruieren : Ein zu niedriger Wert hätte das Tilgungs- und Verzinsungspo-
tenzial der Betriebsinhaber/-innen nicht ausgeschöpft und dem Staat zusätzliche
Kosten an Entschuldungs- und Aufbaumitteln verursacht ; ein zu hoher Wert hätte
die Schuldner/-innen überlastet und den Verfahrensablauf gefährdet. Die adäquate
Bemessung der „Leistungsfähigkeit“ war nicht nur der „Angelpunkt“ des Verfah-
rens, sondern auch der darüber geknüpften Verbindung zwischen dem paternalis-
tischen Staat als ‚Über-Gläubiger‘ und seinen bäuerlichen Klienten. Ausdruck des
Bemühens, eine realitätsgerechte Konstruktion zu schaffen, waren etwa die Kor-
rekturen nach oben oder unten, die die Sachbearbeiter fallweise an der berechne-
ten „Leistungsfähigkeit“ vornahmen. Einmal wurde die „Leistungsfähigkeit“ von
200 auf 300 Reichsmark erhöht, weil die Ausgedingelasten gerichtlich herabge-
setzt worden waren.235 Ein andermal erfolgte mit dem knappen Hinweis „Berg-
bauer ! ! !“ eine Senkung von 385 auf 280 Reichsmark.236 Wir können vor diesem
Hintergrund annehmen, dass die Berechnungen der Landstelle nicht völlig aus
der Luft gegriffen waren ; folglich eröffnen die Betriebsbesichtigungsprotokolle der
Entschuldungs- und Aufbauverfahren einen Blick auf die betrieblichen und häus-
lichen Geldflüsse, der mittels Hofkarten
– mangels Angaben über Einnahmen und
Ausgaben – oder betrieblicher Buchführungsergebnisse – mangels Verfügbarkeit –
nicht möglich wäre. Zudem sind diese Aufzeichnungen nicht auf das bäuerliche
Segment beschränkt, sondern umfassen auch die unterbäuerlichen Gruppen der
ländlichen Gesellschaft.
Verschaffen wir uns einen ersten Eindruck von den betrieblichen Geldflüssen
anhand jener Beispielbetriebe, die für unterschiedliche Ausprägungen der Ent-
schuldungs- und Aufbauaktion stehen : einer Grünland-Waldwirtschaft in Fran-
kenfels mit 30 Hektar, einer Hackfruchtwirtschaft in Heidenreichstein mit knapp
zehn Hektar, einer Futterwirtschaft in St. Leonhard am Forst mit zwölf Hektar
und einer Acker-Weinbauwirtschaft in Auersthal mit etwas mehr als zwei Hek-
tar (Tabelle 7.30). Auf der Einnahmenseite treten die unterschiedlichen Gewichte
der Betriebszweige hervor : der Verkauf lebender und geschlachteter Rinder, der in
Frankenfels fast zwei Drittel der Einnahmen brachte, in Heidenreichstein noch
ein Viertel abwarf, in St. Leonhard am Forst und vor allem in Auersthal geringere
Bedeutung hatte ; die Milcherzeugung, die in St. Leonhard am Forst die wichtigste
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937