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700 Eine grünbraune Revolution ?
dieses Artikels in einer Regionalzeitung unterstreicht, dass nicht nur in den Steu-
erungszentralen des „Dritten Reiches“, sondern auch in peripheren Regionen und
Orten Modernitätsentwürfe im Windschatten des Nationalsozialismus Gestalt
annahmen und das Denken und Handeln von Akteuren anleiteten. Gegenüber
einer einfachen Bilanzrechnung – übersteigerte Vision auf der Aktiva-, ernüch-
ternde Realität auf der Passivaseite – folgt diese Regionalstudie dem komplexeren
Anspruch, deren Wechselspiel – die Realität der Vision und die Vision der Rea-
lität – in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft zu erhellen. Inwieweit ins-
titutionelle und technische Spielzüge agrargesellschaftlicher Akteure auf oberen,
mittleren und unteren Ebenen einen – vielleicht sogar ‚revolutionären‘ – System-
übergang anstießen, ist die Frage, die dieses Schlusskapitel zu beantworten sucht.
Das vorliegende Buch konzentriert sich auf den Reichsgau Niederdonau zwi-
schen „Anschluss“ 1938 und „Umbruch“ 1945. Es schöpft seine Erkenntnisse zwar
aus dem gewählten Ausschnitt aus Raum und Zeit ; doch die räumlichen und zeit-
lichen Grenzen des forschenden Blicks fallen nicht zwingend mit den Grenzen des
beforschten Gegenstands zusammen. Wie die Entwicklung der Agrargesellschaft
über die NS-Ära hinausreicht, reicht sie auch über das Territorium von Niederdo-
nau hinaus. So etwa sehen (Global-)Historiker/-innen die auf die Beherrschung
des kontinentaleuropäischen „Großraums“ ausgerichtete Agrar- und Ernährungs-
politik des „Dritten Reiches“ als Variante des „Drang[s] nach mehr Raum und
mehr Rohstoffen“ von europäischen Nationalstaaten seit dem 18. Jahrhundert.3
Das mikrohistorische Leitmotiv, wonach nicht über, sondern in Dörfern geforscht
werde,4 lässt sich sinngemäß abwandeln : Diese Studie behandelt nicht allein ag-
rargesellschaftliche Akteure und Systeme in Niederdonau 1938 bis 1945 ; darüber
hinaus verweist sie auf die räumlich und zeitlich übergreifende Entwicklung der
Agrargesellschaft in Österreich und anderen Teilen Europas im „kurzen“ 20. Jahr-
hundert.5 Kurz, sie sucht das Große im Kleinen zu erkennen – auch wenn das
Kleine hier kein einzelnes Dorf über eine bestimmte Periode, sondern ein viel-
fältiges Konglomerat lokaler und regionaler sowie kurz- und mittelfristiger Aus-
schnitte umfasst.
Unter den räumlich und zeitlich übergreifenden Interpretationsrahmen der NS-
Forschung seit Mitte des 20. Jahrhunderts war
– neben der in den Ostblockstaaten
doktrinären marxistisch-leninistischen Kapitalismuskritik – im Westen Moder-
nisierung zweifellos der wirkmächtigste.6 Manche Forscher/-innen propagierten
ihn uneingeschränkt, andere distanzierten sich mehr oder weniger deutlich davon,
einige wandten ihn zur „Pathologie der Moderne“ – aber kaum jemand, der die
Gesellschaft im „Dritten Reich“ in inter- oder transnationale sowie mittel- oder
längerfristige Bezüge einzubetten suchte, kam daran vorbei.7 Wie der jenseits des
Eisernen Vorhangs verordnete Historische Materialismus diente auch die dies-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937