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704 Eine grünbraune Revolution ?
rungsbegriff auch den zeitlichen Gegensatz zwischen Tradition und Moderne auf-
brechen ; dazu wäre die Vorstellung „multipler Modernen“ von der Raum- auf die
Zeitachse zu übertragen. Einen Ansatz in diese Richtung bietet die vom Konzept
der partiellen Modernisierung32 inspirierte „Übergangsgesellschaft“, die sich durch
eine „Gemengelage moderner und traditionaler Strukturen und Werte“ auszeich-
net.33 Gleichwohl bleibt dieses Konzept letztlich dem – mittels „Gemengelagen“,
„Mischungsverhältnissen“ und „Ungleichzeitigkeiten“ nur mühsam überbrück-
ten – Gegensatz von Tradition und Moderne verhaftet.
Einen weiterführenden Ansatz eröffnet die in den Science and Technology Stu-
dies gebräuchliche Transitionstheorie, die den schroffen Gegensatz von Tradition
und Moderne durch eine fein abgestufte Skala von Modernitätsgraden überwin-
det.34 Damit rückt der Zusammenhang von bislang als ‚traditional‘ oder ‚modern‘
voneinander separierten Systemelementen ins Zentrum. Entlang einer Skala zwi-
schen den Polen modern und nicht-modern (als Alternative zu den wertbesetzten
Attributen ‚traditional‘ und ‚anti-modern‘)35 sind verschiedene Formen von Sys-
temübergängen von niedrigeren (A) zu höheren Modernitätsgraden (B) denkbar :
der lineare Übergang mit gleichbleibender Geschwindigkeit ; der verzögerte Über-
gang, der sich erst ab einer Schwelle beschleunigt ; der beschleunigte Übergang, der
sich erst ab einer Sättigung verzögert ; der mehrspurige Übergang, der sich in meh-
rere Entwicklungspfade aufdröselt ; der abgebrochene Übergang, der nach einem
Wendepunkt zum Ausgangszustand zurückführt (Abbildung 8.1).36
Freilich erfordert eine Studie zur nationalsozialistischen Agrargesellschaft eine
räumliche und zeitliche Konkretisierung dieses abstrakten Modernitätsbegriffs ;
dafür bietet sich der bereits eingeführte Begriff des Produktivismus an. Europas
Agrargesellschaft vollzog zwischen Weltwirtschaftskrise und Nachkriegsboom ei-
nen produktivistischen Übergang von einem arbeitsintensiv-solarenergetischen zu
einem kapitalintensiv-fossilenergetischen Regime, der enorme, gleichsam revolu-
tionäre Produktivitätszuwächse in Gang setzte.37 Frühere Agrarrevolutionen – die
erste von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die die Land- und Viehnut-
zung ertragreicher arrangierte, und die zweite von Mitte des 19. bis Mitte des 20.
Jahrhunderts, die industrielle Technologien zur landwirtschaftlichen Ertragsstei-
gerung adaptierte
– zeichneten sich zwar durch erhebliche Produktivitätszuwächse
aus ; doch blieb die Agrarproduktion noch überwiegend den Reproduktionszyklen
ihrer pflanzlichen und tierischen Ressourcenbasis verbunden. Hingegen schöpfte
die dritte – eigentliche – Agrarrevolution seit Mitte des 20. Jahrhunderts ihren
enormen Produktivitätszuwachs aus dem „1950er Syndrom“,38 dem Übergang von
der Nutzung organischer Ressourcen aus der Biosphäre zum Verbrauch minerali-
scher Ressourcen aus der Lithosphäre.39 Die agrartechnische Revolution der Mate-
rial- und Energieflüsse war verbunden mit einer agrarinstitutionellen Revolution,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937