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746 Eine grünbraune Revolution ?
der „ordnungsgemäßen Bewirtschaftung“ an das alltägliche Wirtschaften anlegten :
Als Antragsteller/-innen um Entschuldungs- und Aufbaumaßnahmen unterzog
die Landstelle ihre Hilfsbedürftigkeit, -fähigkeit und -würdigkeit einer strengen
Prüfung. Als Eigentümer/-innen eines Erbhofs unterlagen sie der gerichtlichen
Überprüfung ihrer „Wirtschaftsfähigkeit“ und, gegebenenfalls, der treuhändischen
Verwaltung ihres Hofes. Als „Schwarzschlächter/-innen“, die etwa zur Verpflegung
der nötigen Aushilfskräfte kriegswirtschaftliche Vorschriften missachteten, waren
sie sondergerichtlichen Urteilen unterworfen. Die Kontrolle ging jedoch nicht nur
von äußerlichen Instanzen, sondern auch vom Inneren des Hofes aus. So etwa
suchten Ehepartner/-innen, Familienangehörige oder Verwandte mittels gericht-
licher Anträge zur Überprüfung der „Bauernfähigkeit“ der Erbhofeigentümer/-in-
nen ihre Eigeninteressen durchzusetzen. Auf diese Weise betrieben die Menschen
auf den Höfen in ihrer Alltagswelt eine unbeabsichtigte, aber umso wirksamere
Selbstkontrolle, die der Fremdkontrolle durch das NS-System zuarbeitete.
Neben nicht-produktivistischen Rückzugsnischen erschlossen Betriebsleiter/-
innen abseits des Hauptstroms aber auch produktivistische Pioniernischen. Die
staatliche Anbauoffensive von Ölfrüchten zur Schließung der „Eiweiß- und Fett-
lücke“ schnürte ein Förderungspaket, bestehend aus Prämienanreizen, Betriebs-
mittelzuteilungen und Expertenwissen, das – entgegen der nationalsozialistischen
Bauerntumsrhetorik – den Landwirt als (männlich gedachten) Unternehmer ad-
ressierte. Von dieser Offensive der „Kriegserzeugungsschlacht“ zeigten sich nicht
alle betrieblichen Agrarsysteme und Wirtschaftsstile gleichermaßen angespro-
chen ; es waren neben den Landgutsbetrieben im östlichen Flachland Nieder-
donaus vor allem die gewinnorientierten, hochmechanisierten und fachlich ge-
schulten Betriebsleiter/-innen in Gunstlage in Gestalt der Maschinenmänner und
Zuckerrübenbauern. Durch forcierten Anbau von Raps – einer Handelspflanze,
deren Eigenleben technisch-wissenschaftliche Eingriffe herausforderte – intensi-
vierten sie die Land- und Viehnutzung weit über das Durchschnittsmaß hinaus ;
auf diese Weise brachten sie sich als produktivistische Avantgarde der kommenden
Agrarrevolution in Stellung.144
Der Kampf gegen die „Eiweiß- und Fettlücke“ eröffnete eine weitere Pionierni-
sche an einer Front, die kaum Gunst-, sondern meist ausgesprochene Ungunstlagen
bot : die Aufbauaktion im Allgemeinen, den „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“
im Besonderen. Während der breit angelegte „Aufbau“, meist in Verbindung mit der
„Entschuldung“, die „Leistungsfähigkeit“ vor allem von Berg- und Kleinbauern zu
heben suchte, war der auf wenige Pioniergemeinden beschränkte „Gemeinschafts-
aufbau im Bergland“ als ‚kleiner Schritt‘ zum ‚großen Sprung‘ in die „Aufrüstung
des Dorfes“ nach dem Krieg angelegt. Anders als die Ölfruchtanbauoffensive, die
den marktgewandten Unternehmer als produktiven Güterproduzenten adressierte,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937