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750 Eine grünbraune Revolution ?
Kolonialisierung der lokal und regional zentrierten Alltagswelt durch das natio-
nalsozialistische Agrar- und Ernährungssystem mit nationalstaatlicher und kon-
tinentaleuropäischer Reichweite. In den agrargesellschaftlichen Kräftefeldern des
Grundbesitzes, der Landarbeit, des Betriebskapitals, des Agrarwissens und der
Agrargüter durchdrangen staatliche Umverteilungs- und überregionale Marktbe-
ziehungen zunehmend die multifunktionalen Reziprozitätsnetze vor Ort – ohne
diese völlig aufzulösen. Entscheidende Vermittlungspositionen in den Kräftefel-
dern besetzten regionale und lokale Amtsträger wie Kreis- und Ortsbauernführer,
die – über ihre Rolle als Befehlsempfänger ihrer Vorgesetzten hinaus162 – Ermes-
sensspielräume im Eigeninteresse und im Interesse ihrer ländlichen, oft lebens-
weltlich nahestehenden Klienten nutzten. Auf diese Weise vermochten sie den
mit zunehmender Kriegsdauer schwindenden Konsens des „Landvolkes“ mit dem
NS-Regime zwar kaum zu stärken ; doch dämmten sie aufkeimenden Dissens auf
ein für die Machthaber kontrollierbares Maß ein. Der Autonomieanspruch der
Akteure auf ihre materielle und immaterielle Ressourcenbasis – ein Kernelement
bäuerlichen Wirtschaftens163 – mobilisierte vielerlei Facetten von Eigensinn, der
der Kolonialisierung des alltäglichen Wirtschaftens zwar Grenzen setzte, aber auch
Eingangstüren öffnete. So durchdrangen Machtmechanismen selbst die feinsten
Verästelungen des Arbeitens und Lebens – etwa im panoptischen Dispositiv der
Hofkarte, das den „Betriebsführer“ zur Selbstkontrolle seiner alltäglichen Betriebs-
führung im ‚rationellen‘ Sinn anleitete. Im Zuge von Fremd- und Selbstkolonia-
lisierung gerieten die Betriebe und Haushalte verstärkt in direkte und, über die
staatliche Marktlenkung, indirekte Abhängigkeit des (Industrie-)Staates als dem
zentralen Regulator des Agrarsektors.
Die Durchstaatlichung von Markt- und ländlicher Alltagssphäre, die Anfang
der 1930er Jahre eingeleitet und nach dem „Anschluss“ forciert worden war, löste
sich mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nicht auf ; sie wirkte in der
wiedererrichteten Republik Österreich weiter. Kurz, der agrarische Interventions-
staat war ‚normal‘ geworden. Folglich drehte sich die öffentliche Agrardebatte von
der Republikgründung bis Ende der 1950er Jahre weniger um das Ob, als vielmehr
um das Wie der Staatsintervention.164 Die Normalisierung des agrarischen Wohl-
fahrts- und Leistungsstaates knüpfte sich an formelle und informelle, äußerliche
und verinnerlichte Institutionen – von staatlichen Marktordnungen über bürokra-
tisierte, kommerzialisierte und verwissenschaftlichte Konventionen auf den Vor-
der- und Hinterbühnen des Alltags bis zu produktivistischen Zügen im bäuerli-
chen Habitus. In den Jahren zwischen 1938 und 1945 erzeugten Denk-, Rede- und
Handlungsweisen, die nach und nach zur Routine wurden, in den Kräftefeldern
der Agrargesellschaft einen nachhaltigen Normalisierungseffekt : Es stand außer
Frage, dass Landwirtschaftsorganisationen im staatlichen Dienst behördliche Auf-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937