Page - 753 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 753 -
Text of the Page - 753 -
753Versuchsstation
des völkischen Produktivismus
die Kontur des Leitbildes des Landwirtschaftsgesetzes von 1960. Jenseits des ras-
sistischen Extremismus trugen die agrarpolitischen Leitbilder vor und nach 1945
in Österreich – wie auch in Deutschland, der Schweiz und anderen Staaten West-
europas173 – ähnlich ambivalent-moderne Gesichtszüge.
Zweitens erfassten die Pilot- und sonstigen Projekte der ‚nachholenden Moder-
nisierung‘ die österreichische Agrargesellschaft nur zum Teil. Das völkisch-produk-
tivistische Megaprojekt gewann am klarsten Gestalt in der institutionellen Matrix
des Agrarsystems, die Faktor- und Produktmärkte sowie ländliche Alltagswelten
einer – zunehmend normalisierten – Durchstaatlichung unterwarf. Gestützt auf
Machtdispositive, die von der Fremdsteuerung durch das Herrschaftskollektiv des
„Dritten Reiches“ bis zur Selbststeuerung des bäuerlichen Individuums reichten,
suchte der nationalsozialistische Interventionsstaat den nationalen Agrarsektor
gemäß dem völkisch-produktivistischen Leitbild wie einen Hof zu führen. Dabei
verband sich das Wohlfahrtsversprechen, von dem nach „rassischen“ oder anderen
Maßstäben Ausgeschlossene ausgenommen waren, mit dem Leistungsanspruch, an
dem die Angehörigen der „(Land-)Volksgemeinschaft“ gemessen wurden. Wäh-
rend die agrarinstitutionelle Revolution weit voranschritt, blieb die agrartechnische
Revolution in Ansätzen stecken. Zwar sprangen Pionierbetriebe in Gunst- und
Ungunstlagen sowie anfänglich auch der Hauptstrom der Betriebe auf die staatlich
geförderte Technisierungswelle auf. Doch der Vorrang des militärisch-industriellen
Komplexes ab der Kriegswende 1941/42 entzog dem Agrarsektor die zur nachhal-
tigen Leistungssteigerung nötigen Ressourcen.
Das NS-Regime beabsichtigte in der Ostmark zwar eine „totale Neuordnung“
der Landwirtschaft unter völkisch-produktivistischen Vorzeichen – und damit
die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgeworfene „Agrarfrage“ in
der Industriegesellschaft endgültig zu lösen.174 Doch durchschlagende Wirkung
entfaltete dieses Megaprojekt vor allem auf der institutionellen, kaum jedoch auf
der technischen Ebene des Agrarsystems. Kurz, die Agrarmodernisierung in der
Ostmark war zwar weitgehend intendiert, aber nur partiell wirksam. Eine „Grüne
Revolution“ im vollen, institutionellen und technischen Sinn vermochte der NS-
Agrarapparat, trotz erheblicher Anstrengungen, in den Alpen- und Donaureichs-
gauen nicht in Gang zu setzen. Gleichwohl bildete die NS-Ära eine gleichsam
‚vorrevolutionäre‘ Schwellenzeit, die dem – ab 1948 durch die US-amerikanische
Marshallplanhilfe zusätzlich befeuerten – technischen Take Off der österreichi-
schen Agrarrevolution tragfähige Institutionen hinterließ. Alles in allem verfehlte
der Nationalsozialismus in der Ostmark den ‚großen Sprung‘ in den völkischen
Produktivismus ; doch er stieß unumkehrbare ‚kleine Schritte‘ in Richtung des
produktivistischen Übergangs an. Insofern verbindet die intentional-partielle Ag-
rarmodernisierung in der NS-Ära eine Wahlverwandtschaft mit der funktional-
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937