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„In unserem Verhalten zur Vergangenheit,
das wir ständig betätigen,
ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit
vom Überlieferten das eigentliche Anliegen.“
Hans-Georg Gadamer1
1. DAS ERKENNTNISINTERESSE
Revolution sei immer nur der exzessive Ausklang einer Evolution, stellte
Leopold Kunschak 1936, zwei Jahre nach der Proklamation der berufsstän-
dischen Verfassung in Österreich, fest: „Solcher Bewertung unterliegt auch
die Tatsetzung, die vor allem uns Österreicher ganz in ihrem Banne hält,
die Erhebung der ständischen Idee zum Grundgesetz für Staat und Gesell-
schaft.“2 Was die Leitfigur der christlichen Arbeiterbewegung Österreichs
hiermit aussprach, ist nichts weniger als das Faktum, dass am 1. Mai 1934
mit der genannten Verfassung ein politisches Modell sanktioniert wurde,
das die parlamentarische Demokratie in ihren Grundfesten erschütterte.
Eine realpolitische Bedeutung der in der Maiverfassung niedergelegten
ständischen Ideen war freilich kaum gegeben, weil das Konzept, eine „pseu-
do-mittelalterliche(n) Konstruktion“ (O. Rathkolb)3, völlig anachronistisch
war: Die Bildung der Berufsstände „blieb eine Chimäre“ (P. Berger).4 Es
sollte in einer Zeit umgesetzt werden, in der Österreich in Erfüllung der
Friedensbedingungen von Saint-Germain und anfänglich unterstützt vom
(seit 1922) faschistischen Italien um seine Unabhängigkeit vom (seit 1933)
nationalsozialistischen Deutschen Reich zu kämpfen hatte. In dieser äußerst
angespannten Situation, in der es überdies eine schwere Wirtschaftskrise
zu überwinden galt, etablierte sich unter den Bundeskanzlern Engelbert
Dollfuß und Kurt Schuschnigg ein autoritäres politisches System, das die
Macht vom Parlament zur Regierung verschob. Durch den sogenannten „An-
schluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 wurde das
ständestaatlich-autoritäre Experiment kurzerhand abgebrochen.
Österreich stellte in den Jahren 1933–1938 mit seinem Ständestaat5
keine Ausnahme dar: Auch in Italien, Spanien, Portugal und vielen weite-
1 Gadamer, Hermeneutik 1, 286.
2 KunschaK, Werden, 3.
3 rathKolb, Erste Republik, 504.
4 P. berGer, Kurze Geschichte, 170.
5 Begriffliche Varianten: „faschistischer Korporativstaat“, „sozial-konservatives Konzept“,
„leistungsgemeinschaftliche Gesellschaft auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips“; LThK/
III 9 (2000), 929 f. (V. ZsifKovits); vgl. auch botZ, Gewalt, 234–244.
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580