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Geschöpfen um ihn herum“524 und zeichnete immer wieder Helden, die auf
eigenes Glück verzichten.525 Friedrich Funder beurteilte aus einer ähnlichen
Perspektive die Forderung des amerikanischen Präsidenten Wilson nach
dem Selbstbestimmungsrecht der Völker in eher unorthodoxer Weise: „Es
gibt in Wirklichkeit kein absolutes Selbstbestimmungsrecht in der Welt,
nicht für den einzelnen Staat, nicht für die einzelne Nation; ebenso wie der
Mensch als Einzelwesen in seiner Freiheit beschränkt ist durch das Wohl
seiner Mitmenschen, der Gesellschaft, in der er lebt und mit der ihn tau-
send Bande seiner eigenen Bedürfnisse, der allgemeinen Zivilisation und
gemeinsamen Aufgaben verknüpfen, ebenso ist die einzelne Nation kein
in sich abgeschlossen existierendes Lebewesen, sondern durch unzählige
Beziehungen des Naturrechts und der gebietenden Notwendigkeiten des
Lebens der Umwelt verbunden.“526 Auch hier traf sich das Denken des ehe-
maligen Mandatars mit dem konservativ-liberaler Wirtschaftswissenschaf-
ter.527
5.6 Kultivierung personaler Werte
Hingabe, Demut und der Gedanke des Dienens
1945 verwendete Karl Lugmayer zur Umschreibung des österreichischen
Humanitätsideals einen Begriff, der mit Gemeinschaftssinn besonders viele
Berührungspunkte hat, nämlich „Hingabe“.528 Er brachte ihn nicht, wie Phi-
lipp Bugelnig, vorrangig mit der Ehe in Zusammenhang529, sondern meinte,
wie Dietrich von Hildebrand530, die Verbindung von persönlicher Freiheit mit
der Anerkennung der Rechte des anderen, auch die Pflicht, alle Kräfte in
den Dienst der Gemeinschaft zu stellen; nahezu synonym verwendete er die
Begriffe „Demut“ und „Ehrfurcht“.531 Auch Guido Zernatto hielt die Hingabe
für eine typisch österreichische Tugend, die sich in einem Verständnis von
Dienst als Pflicht an der Sache äußere.532 Othmar Spann akzentuierte den
Zusammenhang mit der zuteilenden Gerechtigkeit: Die „Gerechtigkeit vom
524 henZ, Dennoch Mensch, 71.
525 wöGerer, Innere Emigration, 130.
526 funder, Vom Gestern, 450.
527 habermann, Das Maß, 15.
528 Zur Bedeutung dieses Wertes in der Zwischenkriegszeit vgl. P. nolte, Die Ordnung, 166.
529 buGelniG, Der Ständestaat, 42.
530 seifert, Dietrich von Hildebrand, 182.
531 F. luGmayer, Karl Lugmayer, 33.
532 Zernatto, Die Wahrheit, 40 f.
5.6 KULTIVIERUNG PERSONALER WERTE 265
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580