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denn, dass sie sich über weitere Komponenten des Begriffs „Stand“ in jedem
Fall bewusst Rechenschaft gegeben hätten.182 Für Josef Dobretsberger wa-
ren die Stände eine verfassungsrechtliche Kategorie.183 Für Bundeskanzler
Dollfuß stand hingegen fest, dass die Berufsstände, wenn sie ihre Aufgabe
erfüllen sollten, mehr sein müssten als eine einfache Rechtsnorm: „Sie müs-
sen organisch und lebendig sein.“184
1.3 Das Arbeitsvorhaben
Ziel der Studie ist es, das Denkumfeld185, in das der Begriff „Stand“ einge-
bettet war, auszuleuchten. Zu diesem Zweck wird die Geistigkeit zahlreicher
Persönlichkeiten umrissen, die in den Augen der Regierungsspitze beson-
ders zuverlässige Träger des Systems waren, nämlich der Mitglieder der
in der Maiverfassung beschriebenen sogenannten vorberatenden Organe
(„Mandatare“), die – als vorläufige Lösung – allesamt durch Ernennung in
ihre Positionen gerückt waren. Dieses Verfahren ist umso berechtigter, als
in einem System, das Politik in hohem Maß durch Expertise ersetzte, von
den handelnden Personen sehr viel abhing.186
Die Ernennung der Mandatare, fast ausnahmslos geradezu Säulen des
Widerstands gegen den Nationalsozialismus, oblag dem Bundespräsiden-
ten, de facto war sie aber das Werk des Bundeskanzlers187, also Kurt Schu-
schniggs. Daher ist spätestens an dieser Stelle auch insofern eine kritische
Auseinandersetzung mit der geltenden Meistererzählung geboten, als diese
gern undifferenziert vom „Dollfuß/Schuschnigg-Regime“ spricht.188 Dabei
wies schon Ulrich Kluge auf die strukturellen Besonderheiten der Regie-
rung dieses Intellektuellen hin, der keineswegs nur der Vollstrecker der
Politik des Volkstribunen Dollfuß war.189 Dieser Aussage kommt mit Blick
182 bohn, Ständestaatskonzepte, 115; diamant, Katholiken, 175; P. nolte, Ständische Ord-
nung, 23.
183 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 215; binder, Stepan/Dobretsberger, 37.
184 dollfuss an österreich, 236.
185 Die wirtschaftliche Situation würde eine eigene Studie erfordern.
186 wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit, 41.
187 JaGschitZ, Ständestaat, 502 f.; Kraus, „Volksvertreter“, 94; rathKolb, Erste Republik, 481;
senft, Im Vorfeld, 144; steiner, Wahre Demokratie?, 145; tálos/manoscheK, Austrofaschis-
mus, 117.
188 So etwa der Titel bzw. Untertitel der jüngsten Forschungsberichte: wenninGer/dreidemy,
Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime; reiter-ZatlouKal/rothländer/schölnberGer, Österreich
1933–1938.
189 KluGe, Ständestaat, 71 f.; vgl. auch GoldinGer/binder, Geschichte 239; JaGschitZ, Stän-
destaat, 500. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE38
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580