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zwar einige besonders drückende Passagen verhindern, nicht aber dass eine
quasi totale Unterwerfung Österreichs unter das Deutsche Reich und Maß-
nahmen zur Begünstigung der österreichischen Nationalsozialisten festge-
schrieben wurden.267 Guido Zernatto berichtete von nationalsozialistischen
Aufmärschen, die von reichsdeutscher Seite unterstützt worden seien.268 Am
12. März 1938 rückten deutsche Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten in
Österreich ein, einen Tag später wurde der „Anschluss“ durch das Gesetz über
die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vollzogen.269
1942 erklärte Schuschnigg in einem in der Haft in Sachsenhausen verfass-
ten Schreiben an seinen Bruder Artur voll Bitterkeit, im März 1938 habe er
unter schwerem Druck aus Deutschland gestanden; weder Glaise von Horste-
nau noch Seyss-Inquart seien seine Gesinnungsverwandten gewesen.270
3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar
Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi
1921 legte Othmar Spann, Professor für politische Ökonomie und Gesell-
schaftslehre an der Universität Wien271, ein vielbeachtetes, freilich nach wie
vor umstrittenes Buch vor: Der wahre Staat reagierte auf die revolutionären
Ausschreitungen von 1918 mit einem elitären ständestaatlichen System, das
Parlamentarismus und Demokratie verurteilte.272
Spann war ein spekulativer, eklektisch vorgehender Denker273, der Ra-
tionalismus, Positivismus, Utilitarismus, Liberalismus, Individualismus,
Materialismus und Kapitalismus vehement ablehnte.274 Keinem der domi-
nanten weltanschaulichen Lager eindeutig zuzuordnen, unternahm er eine
267 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 230 f.; bracher, Nationalsozialismus, 22; F. müller,
Gemeinsam, 495 f.; newman, Zerstörung, 460 f.; zu den Abläufen vgl. GoldinGer/binder, Ge-
schichte, 271–289; Kindermann, Österreich, 296–304; Potočnik, Bewusstsein, 226; stuhl-
Pfarrer, Außenpolitik, 334 f.; tálos, Herrschaftssystem (2013), 530–534.
268 Zernatto, Die Wahrheit, 242 f. und 265.
269 botZ, Gewalt, 289–292; hanisch, Der lange Schatten, 337–345; KluGe, Ständestaat, 132–
135; tálos, Herrschaftssystem (2013), 547–549.
270 binder/H. schuschniGG, „Sofort vernichten“, 228–230.
271 Zu seiner Person vgl. GauGer, Gemeinwohl, 91; Kettern, Spann; senft, Im Vorfeld, 79–81;
streitenberGer, Leitbild, 217–221.
272 meyer, Stand, 192; P. nolte, Die Ordnung, 179; seefried, Reich, 35 und 124 f.; sieGfried,
Universalismus, 50.
273 bohn, Ständestaatskonzepte, 38; mayer-tasch, Korporativismus, 27; sieGfried, Universa-
lismus, 63 f.
274 G. KlemPerer, Konzepte, 94 f.; LK, 519 (F. romiG); meyer, Stand, 188; resele, Stände-
staatskonzeption, 56 f. 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN84
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580