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Glied eines größeren Ganzen. Dies gilt für das Anliegen, Produzenten und
Konsumenten einander näher zu bringen72, gleichermaßen wie für die Forde-
rung nach kleinräumiger Organisation. Vom Einzelnen wurde ein Bekennt-
nis zum Leistungsprinzip, zur Eigenverantwortung und zur Gemeinschaft
gefordert.73 Außerdem sei das Genossenschaftswesen „von dem einen Gedan-
ken geleitet […], bei aller Wahrung der Interessen der Landwirtschaft doch
auch der gesamten Volkswirtschaft zu dienen“. Die Raiffeisenkassen genös-
sen nicht nur das Vertrauen der Landwirte, sondern auch der übrigen „Stän-
de“.74 Ziel sei es, dahin zu „gelangen, dass es bald keinen standesbewussten
Landwirt mehr gibt, der nicht zugleich überzeugter Genossenschafter ist“.75
Gertrud Spinnhirn lobte die Raiffeisenkassen als Vorbild für das bäuer-
liche Kreditwesen, das sie in den Dienst des ständischen Aufbaus stellte.76
Ludwig Strobl betonte die Verwandtschaft mit der berufsständischen Ver-
fassung. Außer der Kreditgenossenschaft sah er auch die Konsumgenossen-
schaft vor. Ihm fehlte aber nicht die Einsicht, dass viele Menschen außer der
reinen Bedarfsdeckung auch Gewinninteressen hätten.77
7.4 Aspekte der berufsständischen Ordnung
Beruf als Berufung
Die theologische Begründung für den hohen Stellenwert des Berufs im katho-
lisch-konservativen Denken kam von Franz Martin Schindler: Bestimmung
und Drang zur Arbeit lägen im menschlichen Wesen begründet; Arbeit be-
wahre den Menschen vor sittlicher Gefahr und sei ein Mittel zur Übung der
Tugend; Arbeitsamkeit verschaffe auch Achtung. Der „Lebensberuf“, mahnte
er mit Blick auf die vom Individualismus ausgehenden Gefahren, sei „mit
gewissenhafter Treue“ zu erfüllen, denn Berufsdienst sei eine Art Gottes-
dienst. Gleichwohl hielt er einen Wechsel des Berufs – und somit des Stands
– grundsätzlich für möglich, er solle aber mit Vorsicht angestrebt werden.78
Ignaz Seipel nannte die Berufsarbeit einen „Dienst für Gott“.79 Engelbert
72 buchinGer, Das Wirken, 1; vgl. tarmann, Die Personalität, 116.
73 buchinGer, Die Mündelsicherheit, 7–9.
74 buchinGer, Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen, 8 f.
75 buchinGer, Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen, 17.
76 sPinnhirn, Agrarpolitik, 30–32.
77 MSchKP 2, 414–427 (L. strobl).
78 schindler, Lehrbuch II, 350–355; vgl. simonett, Die berufsständische Ordnung, 84 f.; laut
LThK/I sollte sogar ein „Zwangs-Beruf in freudigem Gehorsam gegen die göttliche Vorse-
hung“ akzeptiert werden; LThK/I 2 (1931), 235 f. (G. Gundlach).
79 seiPel, Von der sozialen Liebe, 92 f.; ähnlich funder, Aufbruch, 163.
7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580