Page - 480 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 480 -
Text of the Page - 480 -
7.6 Stände jenseits der Berufe
Erklärungen für die ausführlich referierten Probleme der Umsetzung der
berufsständischen Ordnung und Belege für die Einsicht, dass sich in der
modernen Gesellschaft auf die Berufe keine Einheit gründen ließ450, findet
man auf der theoretischen Ebene schon früh, sehr schlüssige sogar, ja es
verwundert geradezu, dass den im Folgenden referierten Positionen bei der
Konzept
entwicklung so wenig Rechnung getragen wurde.
Paul Schrecker hob die in der Regel nicht gegebene Entsprechung wirt-
schaftlicher und politischer Interessen hervor: Diese Komplexe, beides vor-
rangige Kriterien der Gliederung der Bevölkerung, seien „eben nicht un-
mittelbar auseinander abzuleiten, so dass der gleichen wirtschaftlichen die
gleiche politische Überzeugung entspräche“.451 Johannes Messner gab zu be-
denken, „dass der Einzelmensch im Berufsstande nicht einfach aufgeht, son-
dern dass er auch staatsunmittelbar ist“.452 Auch machten es die Vielschich-
tigkeit der modernen Wirtschaft und die Vernetzung aller Glieder schwer,
den Anteil einzelner zu bestimmen.453 Sich auf eine bestimmte Zahl an Be-
rufsständen festzulegen, fiel ihm schwer; eine kulturell fortgeschrittene Ge-
sellschaft mit hoher Arbeitsteilung brauche eine differenzierte Gliederung,
weil ihr „Lebens- und Kulturbedarf“ groß sei.454 Er versuchte seinen Lesern
auch den Gedanken zu vermitteln, dass Landwirtschaftsrecht nicht nur die
Landwirtschaft betreffe, Gewerberecht nicht nur die Gewerbetreibenden
etc.455 Überhaupt könne berufsständische Ordnung nicht auf die Wirtschaft
beschränkt werden, sondern umfasse die Gesellschaft als Ganzes.456
Ein weiterer Aspekt, den er ansprach, ist der statische Charakter der be-
rufsständischen Ordnung: In Wirklichkeit sei die Möglichkeit der Veränderung
bei den Berufen größer als in Gemeinschaften wie Familie und Staat; es müsse
„vermieden werden, den Übergang in andere Lebenskreise so zu erschweren,
dass die Auslese der Begabungen, die für die Gesellschaft und ihre Kultur von
größter Bedeutung ist, nicht mehr gewährleistet wäre“.457 August Zell gab zu
bedenken, dass manche Personen mehrere Berufe ausüben, so dass die Gren-
zen der Stände niemals „haarscharf“ zu ziehen seien.458 1935 war im Minister-
450 breuer, Anatomie, 102.
451 schrecKer, Für ein Ständehaus, 7.
452 messner, Ordnung, 75 f.
453 diamant, Katholiken, 178.
454 PytliK, Berufsständische Ordnung, 78.
455 Klose, Berufsständische Ordnung, 200.
456 hättich, Wirtschaftsordnung, 96–101; PytliK, Berufsständische Ordnung, 72.
457 messner, Ordnung, 18; vgl. PytliK, Berufsständische Ordnung, 77 und 157.
458 Zell, Ständische Staats-Gliederung, 13 f.; ähnlich CS 30. 9. 1934 (O. meister).
7. DIE BERUFSSTÄNDISCHE
ORDNUNG480
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580