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8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person
Der in den 1920er-Jahren kultivierte Personbegriff machte es möglich, dass
der Naturzustand (im Sinn des christlichen Naturrechts, Kap. 5.4) im Rah-
men des Rechtszustands fortdauerte. Hierbei bedurfte es als Korrektiv des
positiven Rechts/des Staates nicht mehr im selben Ausmaß wie bei alleiniger
Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags.10 Der als Person verstandene Mensch
bedeutete mehr als jede überindividuelle Einheit; sein Wert sollte durch
nichts relativiert werden.11
Personalistische Philosophie betrachtet – wie die Kirche in QA12 – das
Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in Analogie zu dem zwischen
Gesellschaft und Person – weswegen die Gesellschaft als die wichtigere
Größe galt als der Staat.13 Die Grundlage des staatlichen Lebens, erläuterte
Otto Schilling, könne nur das dem Naturrecht unterliegende gesellschaft-
liche Leben sein.14 Josef Dobretsberger forderte von der Staatsgewalt, dass
sie sich an die Grundsätze des „ewigen Naturrechts“ gebunden fühle, denn
sie habe göttliches Recht umzusetzen. Daher habe es die Maiverfassung
zum Prinzip erhoben, dass die Autorität des Staates vor der engeren Perso-
nensphäre Halt zu machen habe.15
Überzeugt von der „wesenhaften Gesellschaftlichkeit des Menschen“,
wünschte Karl Lugmayer die innige Verbindung des gesamten physischen
und geistigen Reichtums zu einem Ganzen, das die Gesamtheit der menschli-
chen Angelegenheiten umfasst.16 Für den Personalismus lag die Aufgabe des
Staates darin, die Interferenz der Autonomien, die zwischen verschiedenen
sozialen Formen bestehen muss, zu garantieren.17 „Totalitätswahn“, so Hans
Karl Zeßner-Spitzenberg, sei „das Kind einer ganz verkehrten Gesellschafts-
auffassung, die das Individuum und die kleinen sozialen Lebenskreise ent-
rechtet“, und „ein Verbrechen an der menschlichen Gesellschaft“.18
In den zwanziger und dreißiger Jahren standen totalitäre Systeme aber
drohend im Raum. „Wir erleben die gefährlichste Revolution der Weltge-
10 sPaemann, Personen, 202.
11 G. stourZh, Fallstudien, 53.
12 GamPer, Subsidiarität, 111.
13 otten, Die „Rettung“, 89.
14 NR 1. 8. 1931 (O. schillinG); vgl. isensee, Subsidiarität, 132.
15 dobretsberGer, Vom Sinn, 40.
16 Zit. nach Pribyl, Der christlichsoziale Politiker, 142.
17 belardinelli, Die politische Philosophie, 255 f.; beyer, Ständeideologien, 134; diamant, Ka-
tholiken, 120.
18 CS 5. 1. 1936 (H. K. Zeßner-sPitZenberG). 8. STAAT UND
GESELLSCHAFT488
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580