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1.4 Diskussion der zentralen Begriffe
»Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind
immer auf dem Wege entsetzliches UnglĂĽck
anzurichten.«29
Zunächst müssen einige Modelle zu Faschismus und Nationalsozialismus ver-
handelt werden, die den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskurs wider-
spiegeln und eine Einordnung von Jelineks »Faschismuskritik«30 ermöglichen
sollen. Interessanterweise ist von dieser in Sekundärtexten gerne die Rede, ohne
dass jedoch auseinandergesetzt wĂĽrde, was jeweils unter dem sehr sensiblen Fa-
schismusbegriff zu verstehen ist. Verständlicherweise fokussiert das bisherige
Sekundärwerk auf sprach- und literaturwissenschaftliche Analysen, lässt dabei
aber zum Teil den reflektierten Umgang mit historischen Begriffen vermissen –
ein Umstand, der gerade bei der Beschäftigung mit politisch engagierter Litera-
tur als Manko gesehen werden muss.
Tatsächlich existiert ein starker Konnex zwischen den hier präsentierten wis-
senschaftlichen Theorien und Jelineks artifiziellen Texten, wie sowohl im theo-
retischen als auch empirischen Teil der vorliegenden Studie deutlich werden
wird, denn die Werke der österreichischen Nobelpreisträgerin spiegeln immer
bis zu einem gewissen Grad den wissenschaftlichen Diskurs wider, greifen die-
sem in manchen Punkten voraus oder arbeiten sich an ĂĽberholten Theorien ab,
auf die im öffentlichen Diskurs oder der Publizistik nach wie vor zurückgegrif-
fen wird, um das faschistische Phänomen erklären zu wollen.
Jelineks eigener, spezieller Faschismusbegriff wurzelt in ihrer Sozialisation als
Autorin in der sprachkritischen Literaturszene der österreichischen 1968er-Be-
wegung.31 Auch wenn die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen
bis heute eines der zentralen Themen im Jelinek’schen Œuvre darstellt, so muss
doch festgestellt werden, dass die Autorin den Nationalsozialismus nicht als
singuläres historisches Ereignis begreift, sondern – aus dem Blickwinkel einer
deklarierten Marxistin – als gewaltsame Eskalation einer allgemeinen, überzeit-
lichen Tendenz zur Herstellung ungleicher Besitz- und Gewaltverhältnisse in-
nerhalb der Gesellschaft, die mit der nationalsozialistischen »Rassenlehre« bio-
logistisch begründet wurde und mit zahlreichen Strategien der »Verdummung«
29 Stapf, Goethes Werke, S. 1124.
30 Zur unreflektierten Verwendung des Faschismusbegriffs vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S.Â
VIII, dies.,
Falsche Spiegel, S. 85, Ehlers, Die Faschismuskritik der Elfriede Jelinek ; Arnold, Faschismus-
kritik bei Elfriede Jelinek ; Mertens, Die Ästhetik der Untoten, etwa auf S. 4.
31 Vgl. Kapitel 1.6.1 dieser Studie.
22 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319