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2.1 Zur Intertextualität
»Ich glaube nicht, daß mein Schreiben länger
hält, nur weil ich da ein Stück vom Fleisch
Heideggers oder Nietzsches eingegraben habe …
und die Germanisten dann Such, Hundi ! spielen
dĂĽrfen, was sie nicht sollen, aber trotzdem immer
wieder machen.«2
Es herrsche »Uneinigkeit in Analyse und Bewertung einer der wichtigsten lite-
rarischen Verfahrensweisen Jelineks, die für das gesamte Werk signifikant ist«3,
befand Annette Doll in den 1990er Jahren. Einmal werde sie als »Montage-«
oder »Collagetechnik«, ein anderes Mal als eine Verbindung beider Techniken
beschrieben, weiters sei von »ummantelten Texten« sowie von »entlehnten Text-
segmenten« die Rede. Aus dem angloamerikanischen Raum stammen die Be-
griffe »structural« und »contextual montage« sowie »mimikry«.4 In den 1970er
Jahren sei im deutschsprachigen Raum noch vielfach von der »Kunst des litera-
rischen Zitierens« die Rede gewesen.5 In der konkreten Textanalyse werde deut-
lich, dass mit keinem dieser Begriffe mehr als eine isolierte Beschreibung einzel-
ner sprachlicher Gestaltungsformen Jelineks zu leisten sei. Die EinfĂĽhrung des
Intertextualitätsbegriffs in die Jelinek-Forschung habe diesem Dilemma jedoch
ein Ende gesetzt : Im Gegensatz zu den vorhergehenden Charakterisierungs-
versuchen ermögliche dieser eine Analyse der Verfahrensweisen Jelineks unter
produktions- sowie rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten.6 Eine Beschrei-
bung der Intertextualität als Methode zur Interpretation von Jelinek-Texten
bleibt Doll aber schuldig. Im Folgenden werden daher, um in die Intertextualität
einzuführen, zunächst einige Begriffsdefinitionen diskutiert, in einem weiteren
Schritt aber wird die Intertextualität auf ihre Praktikabilität im Umgang mit
Jelinek-Texten hin untersucht.
Es war Julia Kristeva, die 1967 den Intertextualitätsbegriff prägte. Kristevas
Ideen gingen ihrerseits auf Michail Bachtins »Dialogizitätsmodell« zurück, wo-
nach es einen Dialog einzelner Stimmen innerhalb eines Textes gebe.7 Kristeva
entwickelte Bachtins Konzept weiter und definierte den Begriff des »Intertexts« :
2 Jelinek, Lesen kann vernichten, S. 67 f.
3 Doll, Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek, S. 19.
4 Vorgeschlagen von Allyson F. Fiddler. Vgl. ebd.
5 Zum Beispiel in Klotz, Zitat und Montage, S. 256–293. Vgl. ebd.
6 Vgl. ebd., S. 19.
7 Vgl. ebd., S. 17 ff.
100 | Methodische Reflexion
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319