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anderen Selbstreferenzen ist es in erster Linie das Trauma der Vater-Familie,
das zu Jelineks eigenem Trauma wurde, die Verfolgung und Vernichtung der
europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg, das in ihrem Opus Magnum die
Feder führte, wie im weiteren Verlauf der Interpretation deutlich werden wird.
3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen
»Seit Jahrzehnten schreibt Elfriede Jelinek
mit großem Erfolg an einem einzigen Buch.
›Die Kinder der Toten‹ ist die Summe all ihrer
Themen, ihrer Verachtung und ihrer Obsessionen.
Es ist das in seiner thematischen Gigantomanie
und seiner sprachlichen Zerstörungswut
radikalste Werk der Autorin.«632
Wie Radisch treffend anmerkte, stellte Jelineks Roman 1995 kein Novum, son-
dern vielmehr die Summe aller bis dato aufgegriffenen Motive und Themen
der Autorin dar. Auch in früheren Texten beschäftigte sich Jelinek bereits mit
der sarkastischen Entlarvung und Destruktion verschiedener Alltags- und Tri-
vialmythen (Sport, Medien, Heimat, Natur, Familie, Sexualität usw.). Auch in
früheren Texten beschrieb sie ent-individualisierte und ent-lebendigte Charak-
tere, um ihre Mythendestruktion über deren Sprachverwendung darzubringen.
Das übergeordnete Ziel all dieser Mythendestruktionen, im Einzelnen aber
auch in Summe betrachtet, ist es, Bewusstsein zu schaffen für die Beeinflussbar-
keit und Manipulierbarkeit durch bestimmte Sprachgebrauchsformen in politi-
schen und medialen Diskursen.
Mit Blick auf österreichische Spezifika stellen sich der Opfermythos und
sein Fortwirken in der Gegenwart als perfides Geflecht nationaler Mythen dar,
welche die unterschwellige, aber ständige Präsenz und auch gesellschaftliche
Akzeptanz faschistischer oder zumindest rechtsideologischer Strukturen in Ös-
terreich widerspiegeln und damit die unzureichende kollektive, aber auch indi-
viduelle Auseinandersetzung mit Österreichs Zeitgeschichte befördern.
Im Folgenden werden daher einzelne, rekurrente Mythendestruktionen aus
»Die Kinder der Toten« exemplarisch herausgegriffen und ihr Zusammenhang
zu dem zentralen Thema des Romans hergestellt : der Verdrängung österreichi-
scher Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah.
632 Radisch, Maxima Moralia, unpaginiert. 213
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319