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In diesem Sinne sei der Mythos als ent-historisierte und ent-politisierte Aus-
sage zu definieren, wobei der Vorsilbe »ent-« ein aktiver Wert zugesprochen
werden müsse.174
Finaler Zweck des von Barthes definierten Mythos ist es nach Jelinek »eine
unbewegliche Welt«175 zu erzeugen und diese »in ihrer unbeweglichkeit (sic) zu
halten«176. Bei Barthes wie auch bei Jelinek wird der Mythos als Instrument der
Manipulation und Kontrolle begriffen, das zu unlauteren poltischen Zwecken
missbraucht wird :
»Diese wunderbare Verflüchtigung der Geschichte ist eine andere Form eines Begriffs,
der den meisten bürgerlichen Mythen gemeinsam ist : der Unverantwortlichkeit des
[einzelnen] Menschen.«177
Die von Barthes angeregte Entschleierung von Mythen sollte zu Jelineks zen-
tralem Schreibziel avancieren, für das die Autorin ein spezifisches Verfahren
entwickelte und über Jahre hinweg modifzierte, welches die germanistische
Forschung mit dem Begriff der »Mythendestruktion« (auch : »-dekonstruktion«)
zu umschreiben weiß. Dieses Verfahren wird im Rahmen der poetologischen
Einführung eingehend erläutert werden.
1.4.4 Der Begriff »Opfermythos«
»Die österreichische Staatsdoktrin, eine Lüge,
lautet : Wir sind das erste von den Nazis besetzte
Land gewesen, und daher können wir es nicht
gewesen sein, die auf dem Heldenplatz gejubelt
haben, und diejenigen, die zu Opfern gemacht
wurden, sie zählen nicht. Es war alles ein
Missverständnis.«178
Der aus der Zeithistorie entlehnte Begriff »Opfermythos«179 bezeichnet ein
wirkungsmächtiges Geschichtsbild der Zweiten Republik, das Österreich als
174 Vgl. ebd., S. 131 ff. Wie Barthes definiert auch Jelinek den Mythos als Aussage, die Ge-
schichtliches mit »Natur« zu begründen versucht und damit politische Veränderungen und
soziale Emanzipation niederhält.
175 Ebd., S. 144.
176 Jelinek, Die endlose Unschuldigkeit, S. 82.
177 Barthes, Mythen des Alltags, S. 141.
178 Jelinek, Die Österreicher als Herren der Toten, S. 61.
179 Synonym werden in der Literatur auch die Ausdrücke »Opferthese« oder »Opfertheorie« ver-
wendet, so auch in dieser Studie. 43
Diskussion der zentralen Begriffe |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319