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»âș⊠Sie sind mein Ich, mein verlorengegangenes, besseres Ich : das, was ich immer zu
werden beabsichtigt habe.âč«559
Wohingegen Unfreund befĂŒrchtet, in Maletta sein böses, schlechtes Ich
wiederzufinden :
»âșWenn ich Ihr gutes Ich binâč, flĂŒsterte er, âșdann sind Sie vielleicht mein schlechtes Ich,
das Ich, das ich fĂŒrchte. Dann sind wir ja sozusagen alte Bekannte.âč«560
Auch hier wird â wie bei Freud â das Wiedererkennen des eigenen Ichs in seiner
Entfremdung als gröĂte Angst, als das eigentlich Unheimliche, vorgefĂŒhrt. In ei-
nem Interview von 1992 ging Lebert selbst auf das DoppelgÀnger-Motiv in seinem
Roman ein und erklÀrte schlicht, dass der Matrose Unfreund und der Fotograf
Maletta im Grunde genommen »eine Gestalt«561, zwei HÀlften von ein und der-
selben Person, seien (was als ironische Ăbertreibung verstanden werden muss).
Neben den genannten motivischen Parallelen ist vor allem die Ăhnlichkeit
des polyphonen ErzÀhlkonzepts in »Die Kinder der Toten« markant.562 Diese
AuffÀlligkeit wird in dem nun folgenden Kapitel eingehender erörtert, da sie
als implizites Mittel zur Darbringung der Kritik Jelineks am österreichischen
Opfermythos und dessen Fortwirken in der Gegenwart begriffen wird.
3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur
»Heute gibtâs hier eine ErzĂ€hler-Auktion, Sie
können mir dankbar sein !«563
Wie in Leberts »Wolfshaut«-Roman besteht eine der hervorstechendsten stilis-
tischen Besonderheiten von »Die Kinder der Toten« in den stets wechselnden,
sich mitunter auch ĂŒberlagernden ErzĂ€hlhaltungen.
Leberts Roman wird ĂŒber weite Strecken hinweg in einem unkonkreten,
nicht nÀher definierten »Wir« erzÀhlt, das ab und zu in ein (ebenfalls nicht nÀ-
her definiertes) »Ich« kippt und zugleich die Perspektive des reflektierenden,
auĂenstehenden ErzĂ€hlers wiederzugeben scheint wie auch die eines Mitglieds
der Dorfgemeinschaft.564
559 Ebd., S. 524.
560 Ebd.,
561 Dobrick, »Bei dem zweiten habe ich nicht mehr gelacht«, S. 27.
562 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 155.
563 KDT, S. 313.
564 Die Hinweise darauf, dass die ErzÀhlinstanz bei Lebert eine Person aus dem Dorf sein könnte,
werden gegen Ende des Romans hin eindeutiger (»⊠bei uns daheim in Schweigen«, S. 432). 203
»Die Kinder der Toten«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319