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gestellt werden, schreibt Jelinek in der RegieanweisungÂ
â wiederum ein Hinweis
auf die demonstrative KĂŒnstlichkeit. Maresa Hörbiger war zudem 1941 noch
nicht geboren, sondern kam erst im JĂ€nner 1945 zur Welt.
Die Ă€lteste Tochter, Mitzi, tritt vor allem im zweiten Teil des StĂŒcks in Er-
scheinung, als ihre sexuelle Unschuld als potentieller Preis fĂŒr die Falschaussage
des Burg theaterzwergs vor den Russen ins Spiel gebracht wird.
Mitzi strÀubt sich zunÀchst gegen die Avancen des Zwergs, weil er ihrem
Empfinden nach »unbeschreiblich hĂ€Ălich und zudem sehr klein«204 sei. An
einen »Krippel, der woas ausgerottet ghert«205, wolle man sie verschachern,
schimpft sie, wodurch deutlich wird, dass sie die rassistische NS-Idiomatik
komplett internalisiert hat. Als aber der Zwerg, von dem Gehabe der Familie
abgestoĂen, beschlieĂt, den Handel sausen zu lassen, will ihn Mitzi schlieĂlich
doch mit allen Mitteln zum Bleiben bewegen und bedrÀngt ihn, vergewaltigt
ihn nahezu.
Auch die Figur Mitzi verkörpert demnach einen bestechlichen und gewalt-
bereiten Charakter, der stets auf den eigenen Vorteil bedacht ist und sich den
gegebenen politischen VerhÀltnissen gewissenlos anpasst.
3.1.4 Die Sprache : ein Mythos
»⊠ich kritisiere eine Sprache, die in ihrer
Pervertierung die faschistische Kulturindustrie
und eine nicht erfolgte Entnazifizierung
in diesem Unterhaltungsindustriebereich
ermöglicht hat.«206
Die Figuren des StĂŒcks konversieren in einer von der Autorin konstruier-
ten Kunstsprache miteinander, einer Mixtur aus gesprochenem Wienerisch
und hochtrabendem »Pseudo-Burg theaterisch«207. Beides erscheint angelernt
und unnatĂŒrlich, sowohl Dialekt als auch Hochsprache. Dazwischen tauchen
meist unvermittelt noch andere Dialekte und phonetische Manierismen auf,
die Kerschbaumer als »gesprochenen Alltag«208 der deutsch-österreichischen
Film- und BĂŒhnenszene (zu ergĂ€nzen wĂ€re : der 1950er Jahre) erkennt â echte
und vorgetÀuschte Akzente à la Heesters und Röck, echte und vorgetÀuschte
204 BT, S. 176.
205 BT, S. 177.
206 Jelinek, zitiert nach : Winter, GesprÀch mit Elfriede Jelinek, S. 13.
207 Kerschbaumer, PortrÀt einer Dichterin, S. 150.
208 Ebd. 143
»Burg
theater«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319