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dankt sie dem antiken Dichter Aischylos für seine »Orestie«876. Mit der Kom-
bination dieser beiden sehr unterschiedlichen Referenztexte habe sie eine Art
»dialektische Wechselwirkung erzeugen wollen«877, so die Autorin : Ihr Text, in
dem sie »erbärmliche« Haider-Zitate mit »historisch und pathetisch aufgelade-
nen« Passagen aus der »Orestie« verknüpft, verfolge letztlich das Ziel, Haider
»lächerlich zu machen«878. Es sei ihr unvorstellbar erschienen, dass gerade in
Österreich, einem der Täterländer des Nationalsozialismus, die extreme Rechte
wieder an die Macht komme. Aber gerade, indem man dieses Ereignis, die so
genannte »Wende« vom Februar 2000, mit der Zeitenwende, die Aischylos’ At-
ridendrama markiert, zusammenbringe, entfalte es seine ganze Lächerlichkeit
und Banalität : Es sei »Tragödie und Farce in einem«879.
3.3.3 Der SPRECHER : Destruktion eines vermenschlichten Mythos
»Die … größte Stärke des Jörg Haider war seine
Begabung und Fähigkeit, auf die Leute zugehen
zu können. … Jörg Haider hörte zu, was man
ihm sagen wollte.«880
Auch wenn in der Regieanweisung zu »Das Lebewohl« nicht explizit festgehal-
ten wäre, dass es sich um einen »Haidermonolog«881 handelt, so könnte das reale
Vorbild für den Sprecher schnell erraten werden. Zahlreiche Originalzitate
Jörg Haiders sind im »Lebewohl« paraphrasiert, manche fast direkt aus erwähn-
tem News-Text oder früheren bekannten Reden und umstrittenen Stellungnah-
men des FPÖ-Parteiobmanns übernommen.
Außerdem hat Jelinek ihre Hauptfigur mit weiteren, eindeutigen Charakte-
ristika ausgestattet, die hohen Wiedererkennungswert haben : So fehlt etwa ein
Verweis auf die stets sonnen- oder solariumgebräunte Haut des Parteiobmanns
ebensowenig (»Jeder Sonne ihr eigenes Studio zum Scheinen… Ich will das
echte Licht, das reine, doch find ich es nicht, hilft mir das künstliche auch.«882)
876 In der Übersetzung von Walter Jens.
877 Jelinek, zitiert nach : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 148.
878 Dies., zitiert nach : Ebd., S. 149.
879 Dies., zitiert nach : Ebd., S. 148.
880 Die Herausgeber Georg Lux, Arno Wiedergut und Uwe Sommersguter in der Einleitung zu
ihrem Sammelband über Jörg Haider : Mensch, Mythos, Medienstar, S. 9.
881 Auf dem Flugblatt zur Uraufführung mit Martin Wuttke auf dem Ballhausplatz stand im
Untertitel : »Ein Haidermonolog« – auf diese Weise war der Zusammenhang mit der Don-
nerstags-Demo bereits deutlich gemacht.
882 LW, S. 17.
252 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319