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nach »noch barbarischeren Kreuzigungstod Jesu Christi« vergleichen.826 Für
diese Äußerungen erlangte die »Kronen Zeitung« über die Landesgrenzen hin-
aus »schaurige Berühmtheit«827.
Den Verkaufszahlen schadeten sie jedoch nicht : Die »Krone« ist bis heute die
meistgelesene Tageszeitung Österreichs.
Vor diesem gesellschaftlich-politischen Hintergrund verfasste Elfriede Je-
linek in den 1990er Jahren ihren Roman. Und das Unheimlichste in ihm war
tatsächlich der Verweis auf die Wirklichkeit.
3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage
»Alles ist fort, denn niemand kann sich
vornehmen, das, was geschehen ist, nicht getan
zu haben.«828
Jelineks Opus Magnum vereint alle großen Themen der Nobelpreisträgerin : So
destruiert die Autorin darin Mythen von Familie, Sexualität, Medien, Natur und
Sport, ebenso wie sie sich in dem Text immer wieder selbst inszeniert ; sie be-
trauert die Toten des Nationalsozialismus aus der Vaterfamilie und arbeitet sich
offenkundig anhand der Figur Karin Frenzel an der eigenen, neurotischen
Beziehung zur Mutter ab. Zudem stellt sie immer wieder sich selbst, als Person
und als Autorinneninstanz ironisch in Frage (»… ich selbst weiß ja alles nur vom
Hörensagen«829), was dem Text mitunter eine gewisse Leichtigkeit, ja sogar Ko-
mik verleiht. Auch »Die Kinder der Toten« ist schließlich als Satire zu lesen
– wie
sämtliche Jelinek-Texte. Nach Meinung der Autorin fehle den Österreichern aber
jenes spezifische Verständnis von Humor, das mit den Juden »ausgestorben«830 sei
(weil ein Großteil der österreichischen Juden im Zuge des Holocaust vertrieben
oder ermordet wurden), was möglicherweise ein Grund für die geringe Akzeptanz
ihres Opus Magnum von Seiten der Leserschaft und des Feuilletons sein könnte.
Und es ist wahr, diese Satire ist anders
– mit Nestroy oder Horváth nur schwer
vergleichbar. Figuren und Plot sind in einer Art Zwischenwelt situiert, in der
es keine eindeutigen Grenzen zwischen Leben und Tod gibt. Stilistisch umge-
setzt ist diese Grenzen verwischende Präsentation von Leben und Tod, indem
826 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 200. (Beide »Staberl«-Zitate in : »Kronen Zeitung«, 10.5.
1992.)
827 Ebd.
828 KDT, S. 208.
829 KDT, S. 470.
830 Jelinek, zitiert nach : Venckute, Elfriede Jelinek im Zenit des Ruhms, unpaginiert. 245
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319