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11.2.2 Bein- und Hornartefakte
Im Fundmaterial der Periode II/II+ der Insula XLI
von Flavia Solva-Wagna liegen mindestens 132
Artefakte aus Bein und Horn vor (Kat. 507 – 622.
665 –
679).
Die Nadel Kat. 507 entspricht der einfachsten und
häufigsten Form der geschnitzten Beinnadeln mit
gerundetem Nadelkopf und bikonischem Schaft
oder der sog. »Beinnadel mit kleinem Kopf«737
sowie »Haarnadeln mit rundem bzw. ovalem
Kopf«738. Aus Flavia Solva-Wagna liegen weitere
Belege aus dem sog. Haus IV vor739. Weitere Par-
allelen sind beispielsweise in Apulum-Alba Iulia740,
Carnuntum-Petronell741, Gorsium-Tác742, Lugdu-
num-Lyon (?)743, Maribor744, Porolissum745 oder
Virunum-Zollfeld746 belegt. Das Fragment Kat. 508
könnte sowohl von einer Näh- oder Schmucknadel
als auch von einem Stilus stammen.
Die Griffe Kat. 509 – 510 könnten als Pyxidengriffe747
oder neutraler als profilierte Möbelbestandteile748
oder Gerätegriffe mit Zapfen749 anzusprechen sein.
Pyxiden mit vergleichbaren Griffen sind in Emona-
Ljubljana750, Girm-Deutschkreuz751 oder Vaison-la-
Romaine752 nachgewiesen. Bei vergleichbaren, als
Spielfiguren angesprochenen Artefakten aus Aqui-
leia753 könnte es sich um Pyxidendeckel mit entspre-
chenden Griffen handeln. Vergleichbare Artefakte
aus Escolives-Sainte-Camille754, Poetovio-Ptuj755
und Pompeji756 wurden auch als Griffe gedeutet757.
Stili (?) aus Sirmium-Sremska Mitrovica und Haar-
737 Ruprechtsberger 1978, 32 f. Nr. 171 – 198 Taf. 1 (Typvertreter
stammen vorwiegend aus Lorch).
738 Deschler-Erb 1998, 164. 384 f. Taf. 32 – 33 (Augusta Raurica-
Augst).
739 Karl u. a. 2009, 173 Nr. 986 – 990.
740 Ciugudean 1997, 152 f. Taf. 2 – 3. Parallelen aus Dakien:
Cociş – Alicu 1993, 130 Taf. 5, 2 – 4. 6 – 9.
741 Rauchenwald 1996, 190 f. Taf. 42, 447 – 452 (Zivilstadt, Insu-
la VI).
742 Biró 1987, 37 Abb. 15; 40 Abb. 18; 51 Abb. 29; 56 Abb. 33.
743 Béal 1983, 183 – 219. 218 Nr. 7 Taf. 34 – 35.
744 Dular 1979, 291 Taf. 1, 7.
745 Gudea – Bajusz 1990/1991, 115 Taf. 10; 117 Taf. 12.
746 Gostenčnik 2006, 44 f. Taf. 1, 4.
747 Béal – Feugère 1983, 115 – 125; Obmann 1997, 61 Abb. 9.
748 Mikler 1997, 65. 159 Taf. 56, 13 – 15.
749 Deschler-Erb 1998, 129. 357 Taf. 5, 58.
750 Petru 1972, 161 Taf. 61, 4 (Grab 863, t.p.q.: Claudius).
751 Braun 1991/1992, 31 – 33 Nr. 10; 62 f. 73 Taf. 3, 10 (Grab 1,
münzdatierter t.p.q. 77/78 n. Chr.).
752 Feugère 1993, 139 Abb. 11.
753 Cassani 1995, 112. 134 Abb. 65 (»pedine da gioco«).
754 Šaranović-Svetek 1981, 172 Taf. 7, 13; 173 Taf. 8, 9.
755 Istenič 1999, 81 Abb. 69; Istenič 2000, 148. 352 Taf. 92, 1 – 2
(Grab 457, neronisch–Anfang 2. Jh. n. Chr.).
756 Allison 2006, 184 Nr. 1294 Taf. 85, 18 Abb. 82, 17 (»bone
pommel«).
757 Prost 1983, 283 Taf. 2, 35; 295 (4. Jh. n. Chr.). oder Schmucknadeln aus Wroxeter758 weisen ver-
gleichbare Köpfe auf. Auch für Eisenmesser liegen
ähnliche gedrechselte Beingriffe vor759. Dass es
sich bei den Artefakten Kat. 509 – 510 um profilierte
Köpfe von Beinnadeln handelt, möchte ich nach den
Dimensionen der Stücke eher ausschließen760.
Für das mehrfach profilierte Fundstück Kat. 510
wäre eventuell auch eine Funktion als dekorativer,
aufgesteckter Scharnierabschluss, -aufsatz oder
Spindelende761 denkbar762. Die Ansprache als
Scharnierabschlusselement erfährt eine gewisse
Bekräftigung dadurch, dass im vorliegenden Bein-
fundmaterial mit Kat. 582 vielleicht das Halbfabrikat
eines Scharnierelements vorliegt, während weitere
Pyxidenbestandteile fehlen. Der unprofiliert geblie-
bene glatte, im Verhältnis zum profilierten Griff kurze
zylindrische Unterteil des Artefakts könnte sowohl
zum Aufstecken auf ein Scharnierende als auch
auf einen Pyxidendeckel, z. B. ähnlich den südgalli-
schen Typen 1b oder 2763, gedient haben. Das Griff-
element wurde mit dem zylindrischen Abschluss in
der dafür vorgesehenen runden Aussparung im Zen-
trum des Deckelkörpers eines Pyxidendeckels764
oder Scharnierabschlusses765 befestigt. Da die
›Griffe‹ Kat. 509 – 510 an der Unterseite nicht fertig
ausgearbeitet sind, ist die Länge des glatten zylin-
drischen Bestandteils, die vielleicht Auskunft über
eine Verwendung als Deckelgriff (kürzerer Zylinder)
oder Scharnierabschluss (längerer Zylinder) geben
könnte, nur unzureichend bestimmbar. Formale und
konstruktionstechnische Ähnlichkeiten bestehen
diesbezüglich auch zu gedrechselten ›Beinstöpseln‹
aus dem Vicus von Bad Wimpfen766 und dem Grä-
berfeld von Stettfeld, die als Bestandteile von Pyxi-
den, eventuell zylindrischen Nadeldosen767, ange-
sprochen wurden. Alle vier Exemplare aus Stettfeld
stammen aus Frauengräbern der Horizonte I–II, die
dem Zeitraum vom zweiten Viertel bis in die zweite
Hälfte des 2. Jahr hunderts n. Chr. angehören768.
Ein gut erhaltenes zylindrisches Beinartefakt aus
Schagen, das als Nadelbüchse gedeutet wird, weist
758 Mould – Webster – Lloyd-Morgan 2000, 112 Abb. 4.9; 127 Nr.
75.
759 Ulbert 1981, 78. 177 Taf. 25, 238 Taf. 35 (Hrušica).
760 Vladkova 2012, 227 Taf. 9, 76.
761 Topál 2003, 6 Nr. 12; 246 Taf. 120, 4/12 (Aquincum-Budapest,
Grab 4, Ende 2. Jh. n. Chr.).
762 Biró 1994, 56 – 58 Abb. 30. 32; 208 Taf. 70, 596; 200 Taf. 62,
539; Petković 1995, Taf. 32, 7.
763 Béal – Feugère 1983, 117 Abb. 3; 119; 5, 2 (Arles). 28 (Puget-
sur-Argens). 36 (Vaison-la-Romaine); 122 Abb. 8, 3 (Arles).
764 Béal 1984, 19 Abb.
765 Béal 1984, 25 Abb.; Obmann 1997, 57 – 60 Abb. 6 – 7.
766 Frey 1991, 185 f. Abb. 78.
767 Schallmayer 1994, 78 Abb. 10.
768 Wahl – Kokabi 1988, 273 Abb. 241, b (Grab 160); 274 f.
Abb. 247 (Grab 226).
Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Titel
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Autor
- Christoph Hinker
- Verlag
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321