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WIEN, 27. SEPTEMBER 1888 859
verletzt Vogelsang, den hochbegabten und verdienstvollen leitenden Geist
des Blattes aufs Empfindlichste, ohne eine Ahnung zu haben, dass dieser
dadurch, dass er Wien wieder christlich gemacht hat, eine „Macht“ geworden
ist, mit der man zart und rücksichtsvoll umgehen muss.
Tut man es nicht, so ruiniert man das einzige Hauptorgan der Katholiken
und konservativen Österreichs zu unersetzlichem und unwiederbringlichem
Schaden der Kirche, der Monarchie und des Reiches.
Ich fürchte, Leo Thun beschließt seine politische Laufbahn als Mörder sei-
nes Lieblingskindes – des Vaterlands – dem er so viele geistige und materi-
elle Opfer brachte!
Ohne seinen selbst gewählten „Beirat“ zu konsultieren, verfügt er direkt
von Tetschen aus den größten Unsinn und bittet mich dann flehentlich, nach
Wien zu gehen, um den früheren Stand, den er selbst zerstört hat, zu erhal-
ten! Die ganze Mission ist gleichfalls ein Unsinn. Ich übernehme sie nur,
um dem Wunsch des edlen Alten nachzukommen, ihn in seinem leidenden
Zustand nicht durch die Ablehnung zu beunruhigen, mir die angerichtete
Konfusion aus der Nähe anzusehen und die Leute zu beschwichtigen und
zum Temporisieren zu bewegen.
Mittwoch, d. i. übermorgen, fahre ich hin.
Wien, 27. September 1888
Heute Vogelsang besucht und möglichst darüber beruhigt, dass man ihm
keine untergeordnete unwürdige Stellung zumuten werde und ersucht, nach
außen die heraufbeschworene Krise möglichst zu maskieren. Fand ihn ganz
bereit dazu und verließ ihn, wie mir schien, befriedigt.
Dann 2-stündige Konferenz mit Inthal, der wohl in mancher Beziehung
widerhaarig und sehr, mit und ohne Grund, gegen Vogelsang gestimmt, doch
schließlich die Notwendigkeit eingesehen zu haben scheint, einen Eklat zu
vermeiden und einen modus vivendi bis zu einer definitiven Regelung der
Redaktionsverhältnisse zu finden.
nehme und mich alsdann auffordert, ihn zu ersuchen, mich von der Leitung des Blattes“
zu entheben und fortan Leitartikel nur mehr unter der Herausgeberschaft Inthals und
eines neu zu ernennenden Chefredakteurs zu liefern. Vogelsang fuhr fort, wenn die „ka-
pitalistische und volksfeindl. Partei im böhm. Adel das V[aterland] ganz in seine Hände
bekommt, dann kann ich selbstverständlich nicht für das Blatt schreiben.“ Man habe
ihn behandelt „wie einen schlechten Bedienten, dem man das Silberzeug nicht mehr an-
vertrauen kann.“ (22.9.) Unterstützung erfuhr Vogelsang insbesondere von Graf Blome,
der am 23.9. erklärte, unter diesen Umständen seinerseits nicht mehr zahlen zu wollen:
Dank Vogelsang seien „die Demokraten uns wertvolle Bundesgenossen geworden. […]
Noch kürzlich schrieb mir Graf Segur, er betrachte Vogelsang als den Louis Veuillot der
sozialen Frage – und jetzt!“
Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Titel
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Autoren
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Herausgeber
- Jiří Malíř
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 1144
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115