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82 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Freilich, die Lösung des einen Problems wirft das nächste auf : die Zuverlässigkeit
der Daten. Die Annahme, dass die erfassten 1.023 Hofkarten sowie 709 Eintragun-
gen in die Kleinbetriebsliste 1941 bis 1944 die regionalen Agrarsysteme abbilden,
wäre illusionär : Erstens folgen sie amtlich gesetzten, bestimmte Merkmale ein-
und ausschließenden Maßstäben ; zweitens sind Fehler der Erhebungsorgane
– der
Hofeigentümer/-innen, Ortsbauernführer und Betriebsstatistiker der Kreisbauern-
schaften124 – bei der Umsetzung dieser Maßstäbe anzunehmen ; drittens sind die
überlieferten Aktenbestände lückenhaft. Das erste Problem kann durch die De-
konstruktion der amtlich konstruierten Agrarstruktur und die Rekonstruktion der
Landwirtschaftspraxis zumindest ansatzweise gelöst werden. Das zweite Problem
ist zwar nicht gänzlich lösbar, aber bis zu einem gewissen Grad handhabbar : Die
Quote unwillkürlicher Fehler hatte sich 1941, im dritten Jahr nach Einführung
der Hofkarte, dank zunehmender Routine wohl bereits verringert ; weiters wurden
willkürliche Falschangaben durch rigorose amtliche Kontrollen in Zaum gehalten ;
zudem konnten im Zuge der Datenerfassung offensichtlich fehlerhafte Eintragun-
gen berichtigt werden ; schließlich wurden fehlerhafte, nicht zu berichtigende Da-
tensätze von der weiteren Auswertung ausgeschlossen. Das dritte, unlösbare Pro-
blem beschränkt sich auf die äußerst lückenhaften Listen der Betriebe unter zwei
Hektar in der Ortsgemeinde Auersthal. Kurz, der amtlich geprägte, fehler- und
lückenhafte Aktenbestand bietet, trotz aller Beschränkungen, eine hervorragende
Grundlage für die Annäherung an das (unter-)bäuerliche Wirtschaften. Aus dem
nach Ausschluss von 180 Datensätzen aus inhaltlichen oder formalen Gründen
1.552 Betriebe umfassenden Datenbestand125 entsteht anhand einiger Merkmale
der amtlichen Agrarstatistik – Betriebsgrößenklasse, Betriebstyp und Gemeinde-
zugehörigkeit – für 1941 ein vielschichtiges Bild. Anstatt, wie die Betriebszäh-
lungs-, Buchführungs- und Hofkartenstatistik, Durchschnittsbetriebe für die je-
weiligen Verwaltungs- oder Produktionsgebiete zu konstruieren, werden – quasi
dekonstruktiv – regionale und lokale Arrangements von Betrieben rekonstruiert.
Auf diese Weise lässt sich das, was die amtliche Durchschnittsstatistik verdeckt,
wiederum statistisch zum Vorschein bringen : die Streuung von Betrieben unter-
schiedlicher Größen und Typen.
Beginnen wir im Pannonischen Flach- und Hügelland und dem eingelagerten
Weinbaugebiet im AGB Matzen. Gesamt gesehen, überwogen hier klar die Ge-
treide-Weinbauwirtschaften mit 297 von 483 oder 61 Prozent sowie die Betriebe
zwischen zwei und fünf Hektar Kulturfläche mit 198 von 483 oder 41 Prozent.
Nach Betriebsgrößen und -typen unterschieden, herrschten unter den Betrieben
mit weniger als einem Hektar die Weinbau- und Hackfruchtwirtschaften – groß-
teils in reiner Form, zum geringeren Teil gemischt – vor. In den folgenden beiden
Betriebsgrößenklassen verringerten sich zunächst die Anteile der Hackfrucht- und
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937