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87Blicke
hinter das Hoftor
größen und -typen gelten nur aus dem Blickwinkel der amtlichen Agrarstatistik als
strukturelle Gegebenheiten ; aus der Akteurperspektive erscheinen sie auch durch
die alltägliche Praxis gemacht. Die Betriebsleiter/-innen entscheiden jährlich, mo-
natlich, wöchentlich, ja täglich über den Einsatz der verfügbaren Ressourcen ; diese
folgenreichen Entscheidungen werden durch die Bedingungen des Agrarsystems
begrenzt und ermöglicht. In den betrieblichen Agrarsystemen der drei Regionen
werden einige dieser einschränkenden Bedingungen greifbar : die natürliche und
die Verkehrslage in den Gemeinden sowie die Betriebsgrößen, die manche For-
men der Bodennutzung vorteilhafter erscheinen lassen als andere, deren Nachteile
zu überwiegen scheinen oder die völlig ausgeschlossen sind. Doch vielfach prak-
tizierten die Betriebsleiter/-innen unter ähnlichen Bedingungen – innerhalb ein
und derselben Gemeinde und Betriebsgrößenklasse – unterschiedliche Arten der
Bodennutzung. In der Region Matzen äußert sich dies etwa an den Raggendorfer
und Auersthaler Betrieben unter fünf Hektar, die sich zwischen reiner und mit
Getreide- oder Hackfruchtbau kombinierter Weinbauwirtschaft und, wenn auch
seltener, Getreide- und Hackfruchtwirtschaft entschieden. In Weikendorf standen
in den Betrieben über fünf Hektar Getreide-, Hackfrucht und Getreide-Wein-
bauwirtschaft zur Wahl. In der Region Mank lag in St. Leonhard am Forst und
Bischofstetten in fast jeder Größenklasse eine bunte Vielfalt an Betriebstypen vor ;
auch in Plankenstein, St. Gotthard und Texing bestand zwischen zwei und zehn
Hektar die Alternative zwischen Hackfrucht- und Futterwirtschaft. Selbst in der
Region Litschau, die am stärksten auf einen Betriebstyp, die Hackfruchtwirtschaft,
festgelegt schien, bestanden Wahlmöglichkeiten, vor allem für die Betriebe über
fünf Hektar. So wurden etwa in den Finsternauer Betrieben zwischen fünf und
zehn Hektar, neben der vorherrschenden Hackfruchtwirtschaft, drei weitere Be-
triebstypen bestimmt. Wenn hier von „entscheiden“, „wählen“ oder „bestimmen“
die Rede ist, dann freilich nicht im Sinn einer völlig freien Entscheidung, Wahl
oder Bestimmung ; denn die landwirtschaftliche Praxis ist immer und überall ein-
gebettet in bedingende und daraus folgende Strukturen.128
Um die Spur zur Landwirtschaftspraxis weiter zu verfolgen, reichen Betriebs-
größe und -typ nicht aus ; denn diese amtlichen Erhebungsmerkmale lenken unsere
Blicke auf die vergleichsweise stark strukturabhängige Bodennutzung. Ergänzen
wir sie daher durch praxisabhängigere Merkmale : das Maß an Arbeit und Kapital,
das die Betriebsleiter/-innen auf ihren Grundparzellen einsetzten. Darauf, nämlich
auf den optimalen Arbeits- und Kapitaleinsatz durch die „Betriebsführer“, zielte
auch die Wirtschaftsberatung des Reichnährstandes ab. Diese Notwendigkeit er-
schien umso drängender, als die „Erzeugungsschlacht“ den „starken Ausbau aller
der Maßnahmen, die dazu dienen, den landwirtschaftlichen Betriebsleitern nicht
nur das ‚Was‘ nahezubringen, sondern auch das ‚Wie‘ an sie heranzutragen“,129
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937