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114 Anatomie eines „lebenden Organismus“
V/A-Quotienten, hohe Arbeits- sowie niedrige Vieh- und Maschinenintensität,
Landwirtschaft als Hauptbetrieb und häufige Zupacht von Parzellen. Am Anwe-
sen des Kleinhäuslers Johann Futterknecht in Raggendorf lassen sich die Wein-
hauerfamilien genauer konturieren. Die Weinbauwirtschaft umfasste einen Hek-
tar Eigenbesitz und 0,4 Hektar Pachtland, wovon ein Hektar als Acker und 0,4
Hektar als Weingarten genutzt wurden. Sechs Zehntel des Ackerlandes nahm das
Getreide ein, drei Zehntel Kartoffeln und Gemüse und ein Zehntel das Feldfutter.
Johann Futterknecht bearbeitete den Zwergbesitz gemeinsam mit einer erwachse-
nen Familienarbeitskraft, vermutlich seiner Frau ; das ergab eine überdurchschnitt-
liche Arbeitsintensität von 1,4 AKE. Außer zehn Legehennen scheint in der
Kleinbetriebsliste keinerlei Vieh auf ; auch Maschinen sind keine dokumentiert.
Im Haushalt des Weinbauernpaares lebte noch eine zu versorgende erwachsene
Person, vielleicht ein Elternteil des Mannes oder der Frau. Mit 1,5 Personen lag
der V/A-Quotient im Durchschnitt. Für Johann Futterknecht wurde keine au-
ßerbetriebliche Erwerbstätigkeit genannt. Dennoch ist davon auszugehen, dass
er und seine Frau zu den Arbeitsspitzen in den Weingärten und auf den Äckern
der umliegenden Bauern aushalfen ; im Gegenzug stellten ihnen die Bauern ihre
Fuhrwerke für die Ackerbestellung zur Verfügung. Die Weinhauerfamilien waren
in ein kleinräumiges und langfristiges Netz wechselseitiger Arbeitsbeziehungen
eingebunden161 – ein dichtes Flechtwerk, das den grobmaschigen Kategorien der
amtlichen Agrarstatistik zwangsläufig entgeht.162
Die ebenfalls auf die Region Matzen beschränkten, in Auersthal gehäuften
Kleinbauernfamilien unterschieden sich von den Weinhauerfamilien durch größere
Anteile des Ackerlandes, größere Kulturflächen, meist zwischen zwei und fünf
Hektar, durchschnittliche Arbeitsintensität und höheren Mechanisierungsgrad.
Eine typische Vertreterin war die Getreide-Weinbauwirtschaft von Leopold Fürst
und seiner Frau in Auersthal. Das Paar bewirtschaftete 3,2 Hektar, verteilt auf
2,8 Hektar Acker und 0,4 Hektar Weingarten. Auf sechs Zehntel des Ackers ge-
dieh Getreide, vor allem Roggen und Körnermais, weiters Weizen und Gerste ; die
restlichen vier Zehntel verteilten sich auf Kartoffeln und Futterrüben sowie Klee.
Die Eheleute beschäftigten weder Gesinde noch Taglöhner ; ihre Arbeitsintensi-
tät erreichte durchschnittliche 0,6 AKE pro Hektar. Im Stall befanden sich zwei
Milch- und Arbeitskühe, ein Kalb, drei Mastschweine, eine Ziege und 14 Hühner,
zusammen 3,2 GVE ; daraus ergab sich eine überdurchschnittliche Viehintensität
von 1,0 GVE pro Hektar. Da ein nicht mitarbeitender Erwachsener, vielleicht ein
Elternteil des Mannes oder der Frau, im Haushalt verköstigt wurde, stieg der V/A-
Quotient auf 1,5 Personen – ein durchschnittlicher Wert. Die jährliche Markt-
leistung der Kleinbauernwirtschaft, sechs Doppelzentner Roggen, war bescheiden ;
dabei ist die verkaufte Weinmenge unbekannt. Im Unterschied zu Weinhauerfa-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937