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117Im
Raum der Gutswirtschaft
hingegen die innige Verbindung zwischen Wirtschaftsbesitzer und Arbeitsträ-
ger weitgehend, schon aus Gründen der Größe des Besitzes, weg“.169 Die scharfe
Scheidung von bäuerlicher und gutsherrschaftlicher Siedlung verweist auf die
identitätspolitische Position, die der Großgrundbesitz als Schlüsselsymbol im na-
tionalsozialistischen Agrardiskurs einnahm : Er bezeichnete das Andere, das dem
Eigenen – dem „deutschen Landvolk“ – Kontur verlieh. Die Existenz des Groß-
grundbesitzes im östlichen Niederdonau wurde gleichgesetzt mit dem wirtschaft-
lichen und ethnischen Existenzverlust des Bauerntums, dem Aufkauf „deutschen“
Bauernlandes und der Ansiedlung einer „fremdvölkischen“ Landarbeiterschaft.
Sinngemäß übersteigerte der Autor den Gegensatz von Bauerndorf und Gutshof
zu einer Art Existenzkampf : „Unser deutsches Land an der Ostgrenze des Reiches
bedarf wieder einer stärkeren Verbäuerlichung, um den Aufgaben der Sicherung
des Reichsgebiets gewachsen zu sein.“170
Der österreichische Großgrundbesitz war nicht erst in der NS-Ära, sondern
bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Gegenstand agrarpolitischer und
agrarökonomischer Debatten. Sozialistische Politiker wie liberale Ökonomen
führte seine ökonomische Existenz übereinstimmend auf außerökonomische Be-
dingungen – das „Raubrittertum der Grundherren“ (Otto Bauer) oder schlicht auf
„Gewalt“ (Ludwig Mises) – zurück.171 Die Debatte über den Gutsbetrieb in der
NS-Ära knüpfte an (alt-)österreichische, vor allem aber an Wurzeln im deutschen
Kaiserreich an. Agrarfachleute unterschiedlicher Couleurs sahen seit den 1890er
Jahren in der gutsbetrieblichen Agrarverfassung der ostelbischen Gebiete einen
Hauptschuldigen für die „Landflucht“ deutscher Landarbeiter/-innen und für ih-
ren Ersatz durch polnische Saisonarbeitskräfte auf den junkerlichen Gütern. Der
Großgrundbesitz galt im herrschenden Agrardiskurs nicht nur als volkswirtschaft-
liches, sondern
– angesichts der befürchteten „Polonisierung“ (Max Weber)
– auch
als „volkspolitisches“ Übel ; als probates Gegenmittel erschien die Förderung der
bäuerlichen Siedlung.172 In diesem Diskursumfeld radikalisierte der antisemitische
Zug des Nationalsozialismus die Gegnerschaft zwischen – meist als „jüdisch“ eti-
kettiertem – Großgrundbesitz und „deutschem Bauerntum“.
Trotz seiner Präsenz als Debattengegenstand ist der Großgrundbesitz als sta-
tistische Größe schwer zu fassen. Die landwirtschaftliche Betriebszählung 1939
klassifizierte alle Betriebe mit 100 oder mehr Hektar bewirtschafteter Fläche als
„Großbetriebe“. Diese Zähleinheit umfasste jedoch äußerst unterschiedliche Be-
triebs- und Haushaltsformen. Vor allem verlief die Grenze zwischen Bauern- und
Gutshof abseits von 100 Hektar, wie ein regionaler Vergleich der großbetrieblichen
Flächenanteile zeigt : Nicht die Landkreise Eisenstadt (44,4 Prozent), Gän sern dorf
(29,5 Prozent) und Hollabrunn (14,2 Prozent) im östlichen Flach- und Hügelland,
in denen die „gutsherrschaftliche Siedlung“ am stärksten hervortrat, sondern die
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937