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129Durchleuchtete
Höfe
der „Entschuldungsbedürftigkeit“ und „Entschuldungsfähigkeit“ der Betriebe so-
wie der „Entschuldungswürdigkeit“ der Betriebsinhaber/-innen abhängig.191 Die
Überprüfung dieser drei Bedingungen oblag der Landstelle, der für die Durch-
führung der Entschuldungsaktion eigens geschaffenen, dem Reichsernährungs-
ministerium (REM) unterstellten Behörde. Großes Augenmerk galt dabei unter
anderem der „Persönlichkeit und Wirtschaftsweise des Betriebsinhabers“ als Kri-
terium der „Entschuldungswürdigkeit“, wie Hans Heinrich, der für die Entschul-
dungsmaßnahmen zuständige Ministerialrat im REM, in seinem Kommentar zur
Österreichischen Entschuldungsverordnung ausführte :
„An Persönlichkeit und Wirtschaftsweise [Hervorhebung im Original] des Betriebsin-
habers müssen strenge Anforderungen gestellt werden. Der Betriebsinhaber muß die
Gewähr dafür bieten, dass der Betrieb nach Durchführung der Entschuldung sowohl
seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt als auch hinsichtlich der Wirtschafts-
führung den an die Landwirtschaft gestellten Anforderungen voll gerecht wird. Der
Betriebsinhaber muß auch persönlich ehrbar und tüchtig sein. Ob alle diese Voraus-
setzungen gegeben sind, ist eine Frage des einzelnen Falles und der Standesauffassung
der landwirtschaftlichen Kreise, denen der Betriebsinhaber angehört. Die Landstelle
hat daher in jedem Falle die Voraussetzungen genau zu prüfen.“192
Die „Entschuldungswürdigkeit“ des Betriebsinhabers wurde von amtlicher Seite
nicht allgemein festgeschrieben, sondern hing
– als „Frage des einzelnen Falles und
der Standesauffassung der landwirtschaftlichen Kreise“
– von der Einschätzung der
jeweiligen Besonderheiten ab. Dies erforderte ein aufwendiges Ermittlungsverfah-
ren, das Besichtigungen der Entschuldungsbetriebe durch Mitarbeiter der Land-
stelle einschloss. So schwärmten auch im Reichsgau Niederdonau die Gutachter/-
innen der Landstelle ab Jahresmitte 1938 aus, um sich, meist im Beisein von
Ortsbauernführern, vor Ort einen Eindruck von den jeweiligen Betriebs- und
Haushaltsverhältnissen zu verschaffen. Die dabei angelegten Protokolle enthalten
neben umfangreichem Zahlenmaterial über Natur- und Verkehrslage, Bodennut-
zung, Viehstand, technische Einrichtungen, Betriebs- und Haushaltsangehörige
sowie Einnahmen und Ausgaben detaillierte Beschreibungen und Beurteilungen
von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen – kurz, ein amtliches Porträt des
Hofes als Akteur-Netzwerk. Die Passagen über „Persönlichkeit und Wirtschafts-
weise des Betriebsinhabers“ können als amtliches Porträt des jeweiligen (unter-)
bäuerlichen Wirtschaftsstils gelesen werden. Freilich haben handelt es sich dabei
um keine objektiven Ausdrücke der zeitgenössischen Betriebs- und Haushaltsfüh-
rung, sondern um subjektive Eindrücke von Organen des NS-Agrarapparats. Um
dem Sachbearbeiter der Landstelle – rekonstruierend – über die Schulter schauen
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937