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148 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Erwerbs und Frauen als alleinige Betriebsleiterinnen ab. Daraus wird zumindest
eine Triebfeder der vielfach konstatierten Selbstausbeutung des arbeitsamen und
fleißigen Bauern erkennbar : die Notwendigkeit, eine erhebliche Zahl noch nicht
oder nicht mehr arbeitsfähiger Familienangehöriger zu versorgen.278 Die (unter-)
bäuerlichen Familien folgten mehreren Strategien, um ihr Pro-Kopf-Familienein-
kommen anzuheben : die Steigerung der Arbeits- und Vieh intensität des eigenen
Familienbetriebes sowie außerhäusliche Lohnarbeit inner- und außerhalb der
Landwirtschaft, etwa als Taglöhner/-in, Heimweber/-in oder Hilfsarbeiter/-in.
Der arbeitsame Bauer wird an der Futterwirtschaft von Franz und Leopoldine
Söllner in Frankenfels, AGB Kirchberg an der Pielach, fassbar. Der Grundbesitz von
2,5 Hektar, davon 1,9 Hektar sowie 0,6 Hektar Grünland, versorgte die kinderreiche
Familie mit dem Notwendigsten. Der Acker diente großteils als Wechselwiese ; auf
dem Rest wurden Gerste, Kartoffeln und Futterrüben angebaut. Eines der Kinder,
die 16-jährige außereheliche Tochter des Mannes, unterstützte das 36-jährige Besit-
zerpaar bereits als vollwertige Arbeitskraft. Die Arbeitsintensität lag mit 1,2 AKE
pro Hektar über den Durchschnitt. Im Stall standen eine Kuh, eine Kalbin, drei
Schweine, darunter eine Zuchtsau, zwei Ziegen und zehn Hühner. Zusammen ergab
das 2,5 GVE oder 1,0 GVE pro Hektar, was einer durchschnittlichen Vieh intensität
entsprach. Da nur das notwendigste Gerät vorhanden war, lag die Maschinenintensi-
tät unter dem Durchschnitt. Neben den drei Familienarbeitskräften lebten im Haus-
halt eine 71-jährige Ausnehmerin sowie neun Kinder zwischen zwölf Jahren und
einem Jahr. Daher bewegte sich der V/A-Quotient auf dem überdurchschnittlichen
Niveau von 2,87 Personen. Die Einnahmen aus dem Rindfleisch- und Obstverkauf
deckten den Bedarf der Großfamilie bei weitem nicht ab ; daher verdingte sich der
Mann als Bauarbeiter, was jährlich 1.400 Reichsmark einbrachte. Abzüglich der Be-
triebs- und Haushaltsausgaben verblieben 100 Reichsmark im Jahr. „Sehr fleißiger
und tüchtiger Mensch, entschuldungswürdig, alle Kinder gesund und zu Hause“,
verlieh der Sachbearbeiter seiner Wertschätzung Ausdruck.279
Die Hackfrucht-Weinbauwirtschaft von Josef und Theresia Jochinger in Velm,
AGB Matzen, vereinte charakteristische System- und Stilmerkmale des fleißigen
Bauern. Von 3,8 Hektar Kulturfläche, davon 1,6 Hektar Zupacht, nutzte das Ehe-
paar 3,0 Hektar als Acker, 0,1 Hektar als Garten und 0,7 Hektar als Weingarten.
Auf vier Zehntel des Ackers gedieh Getreide – Roggen, Hafer, Körnermais und
Gerste –, auf einem Drittel das Feldfutter und auf einem Viertel Kartoffeln und
Futterrüben. Üblicherweise bearbeitete der und die Eigentümer/-in die Gründe
ohne sonstige Hilfskräfte, was einer durchschnittlichen Arbeitsintensität entsprach ;
zum Zeitpunkt der Besichtigung war der Mann jedoch zum Militär eingerückt,
sodass die Frau den kleinbäuerlichen Betrieb alleine führen musste. Der Viehstand,
zusammen 4,9 GVE, umfasste ein Pferd, zwei Kühe, ein Kalb, neun Schweine, da-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937