Page - 157 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 157 -
Text of the Page - 157 -
157Regulative
der Ent- und Verwurzelung
raffer – teils umgesetzt, teils weitergetrieben. Begreifen wir den Behördenapparat
des Deutschen Reiches als „Doppelstaat“, dann überholte auf diesem Gebiet in den
ersten Wochen und Monaten der von Gesetzen losgelöste „Maßnahmenstaat“ den
an eine gewisse Rechtsstaatlichkeit gebundenen „Normenstaat“.33 Noch bevor die
Gesetze der inklusiven Bodenpolitik in Kraft traten, erfolgten die ersten Aktio-
nen der exklusiven Bodenpolitik : die eigenmächtigen, ohne gesetzliche Grundlage
durchgeführten Übernahmen land- und forstwirtschaftlicher Güter im Besitz von
„Juden“ im Sinn des Reichsbürgergesetzes durch selbsternannte oder von unterge-
ordneten Stellen legitimierte „kommissarische Verwalter“, gefolgt von Versuchen
der Machthaber, die „wilden Arisierungen“ in geordnete Bahnen zu lenken.34 Der
erste Schritt bestand darin, die Einsetzung „kommissarischer Verwalter“ zu regeln :
Bald nach dem „Anschluss“ wurde in der gleichgeschalteten Landwirtschaftskam-
mer eine kommissarische Leitung für von jüdischen Eigentümern oder Pächtern
angeblich verlassene Betriebe geschaffen.35 Zugleich koordinierte der Gutsbesit-
zer Johannes Hardegg als „Vertrauensmann des Staatskommissars in der Privat-
wirtschaft“ die Verwaltung land- und forstwirtschaftlicher Güter in jüdischem
Besitz.36 Erst im April 1938 wurde die Einsetzung „kommissarischer Verwalter“
gesetzlich geregelt.37
Der nächste Schritt der Bürokratisierung der land- und forstwirtschaftlichen
„Entjudung“ bestand in der Verordnung über die Meldepflicht jüdischen Vermögens
über 5.000 Reichsmark vom April 193838 und in der Errichtung der Vermögens-
verkehrsstelle im Ministerium für Handel und Verkehr, dem späteren Ministerium
für Wirtschaft und Arbeit, im Mai 1938.39 Innerhalb der Vermögensverkehrsstelle
koordinierte die Abteilung für Land- und Forstwirtschaft die „Entjudung“ land-
und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes, die bis Jänner 1939 nur zu einem geringen
Teil, zu 16 Prozent, abgeschlossen war.40 Laut der Statistik der Vermögensverkehrs-
stelle meldeten in Niederdonau insgesamt 290 Beteiligte 19.419 Hektar Grundbe-
sitz im Wert von 13,6 Millionen Reichsmark an (Tabelle 3.1). Unter den Kreisen
lag Gän sern dorf mit 56 Beteiligten im Besitz von 7.449 Hektar im Wert von 5,9
Millionen Reichsmark einsam an der Spitze. Darüber hinaus wies allein St. Pölten
über 20 Besitzeinheiten auf ; über 1.000 Hektar wurden nur in Baden, Bruck an der
Leitha, Waidhofen an der Thaya und Zwettl registriert ; über eine Million Reichs-
mark betrug der Gesamtwert ausschließlich in Baden und St. Pölten. Der Grund-
besitz bestand fast zur Gänze aus landwirtschaftlichen Betrieben ; nennenswerte
Forstbetriebe gab es nur in Amstetten ; Weinbau- und Gärtnereibetriebe in größe-
rem Ausmaß wurden in Baden, Eisenstadt, Mistelbach und Krems erfasst. Trotz der
Fehler, die sich in derartige Statistiken unweigerlich einschleichen, erkennen wir
darin die ungleiche Verteilung des jüdischen Grundbesitzes in Niederdonau. Die
Besitzkonzentration in den an Wien angrenzenden Kreisen Baden, Bruck an der
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937