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158 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
Leitha und Gän sern dorf lässt annehmen, dass die Gutsbesitzer/-innen zu einem
erheblichen Teil nicht auf ihren Landgütern, sondern, einem großbürgerlichen Le-
bensstil gemäß, in der Großstadt wohnten.41 Vor diesem Hintergrund können wir
auch das alarmistische Bild, das die Arbeitsgemeinschaft der Wiener Deutschen
Studentenschaft über die „Entdeutschung“ des Grundbesitzes im Marchfeld zeich-
nete, zurechtrücken : Mit dem Kreis Gän sern dorf wählten die Nachwuchsforscher/-
innen keinen Durchschnitts-, sondern den Extremfall.
Eine Verschärfung der land- und forstwirtschaftlichen „Arisierung“ bewirk-
ten die nächsten Schritte, die bereits durchgeführte Enteignungen nachträglich
in gesetzliche Bahnen brachten : die Verordnung über die Einziehung „volks- und
staatsfeindlichen Vermögens“ vom November 193842 und die Verordnung über
den „Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom Dezember 1938.43 Während sich
erstere indirekt auch gegen jüdische Grundbesitzer/-innen richtete, zielte letztere
direkt auf die rasche und flächendeckende „Arisierung“ des Bodens. Zu diesem
Zweck wurden die land- und forstwirtschaftlichen Agenden von der „Entjudung“
der übrigen Wirtschaft abgetrennt und eigenen Organisationen übertragen : Die
landwirtschaftlichen Verfahren oblagen nunmehr der Oberen Siedlungsbehörde
im Ministerium für Landwirtschaft, die forstwirtschaftlichen dem Amt des Beauf-
tragten für das Forstwesen im Lande Österreich, ab April 1939 dem Generalrefe-
renten für forstliche Sonderaufgaben. Mit dem allmählichen Abbau der Zentral-
behörden im „Lande Österreich“ im Zuge der Einführung des Ostmarkgesetzes44
wurden auch die Agenden der land- und forstwirtschaftlichen „Arisierung“ auf
Behörden auf die Gauebene verlagert : Die Obere Siedlungsbehörde als Abwick-
lungsstelle der landwirtschaftlichen „Arisierung“ wurde im April 1940 der Behörde
des Reichsstatthalters in Niederdonau eingegliedert ; der Generalreferent für forst-
liche Sonderaufgaben gab im April 1943 die Agenden der forstwirtschaftlichen
„Arisierung“ an das Landesforstamt ab.45 Heinz Haushofer, der zuständige Abtei-
lungsleiter in der Behörde des Reichsstatthalters in Niederdonau, schildert in sei-
ner Autobiographie Anfang der 1980er Jahre, wie „sorgenvoll“ er und seine Mitar-
beiter die „an uns herangetretene Aufgabe“ gehandhabt und wieviel „Scheußliches“
sie zu verhindern gewusst hätten. Die Abteilung habe die Aktion dem „Sumpf
der Korruption“ im Umfeld der NSDAP entrissen, um sie „verfahrensmäßig ‚in
Ordnung‘ abzuwickeln“.46 Dagegen rechtfertigte er im Jahr seines Amtsantritts
1940 die Bedeutung seiner kompetenzreichen Abteilung unter anderem mit dem
Hinweis auf die „Entjudung“ des landwirtschaftlichen Grundbesitzes.47 Aus bei-
den Äußerungen spricht ein Mann des „Normenstaates“, der die Auswüchse des
„Maßnahmenstaats“, wie er sagte, „mit einer gewissen Schadenfreude“48 betrach-
tete – und gerade über seine Orientierung an der „Ordnung“ zum Funktionieren
des „Doppelstaates“ beitrug.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937