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161Regulative
der Ent- und Verwurzelung
Aufgrund der Einsatzverordnung mussten jüdische Grundbesitzer/-innen inner-
halb kurzer Fristen ihr Eigentum „arischen“ Personen veräußern ; falls das nicht
gelang oder wegen Flucht, Deportation oder Tod nicht möglich war, wickelten
behördlich eingesetzte Treuhänder die Veräußerung ab. Im Fall größerer Lie-
genschaften besaßen die Deutsche Ansiedlungsgesellschaft (DAG) für Land-
wirtschafts- und die Reichsforstverwaltung für Forstwirtschaftsflächen das Vor-
kaufsrecht ; erst dann sollten andere öffentliche oder private Käufer/-innen zum
Zug kommen. Der „Ariseur“ hatte einen vom Eigentümer oder dessen Vertretung
unterfertigten Kaufvertrag vorzulegen – eine Anforderung, die vielfach unter
Druckausübung zustande kam. Gelang dies nicht, trat der Treuhänder – meist ein
Funktionär des Reichsnährstandes, ein Amtsträger der NSDAP oder ein Rechts-
anwalt – als Verkäufer der Liegenschaft auf ; diesem Zwangsverkauf unterlagen
in- und ausländische Staatsbürger/-innen, erstere ohne, letztere mit Genehmigung
des REM. Weiters musste der „Ariseur“ amtlich anerkannte Schätzungsgutachten
über den Wert der Liegenschaft sowie die Zustimmung von Kreisbauernschaft und
NSDAP-Kreisleitung einholen und seine „rassische“ Eignung nachweisen. Der
Kaufpreis richtete sich nach dem Schätzwert oder „angemessenen Verkehrswert“,
der meist erheblich unter dem eigentlichen Marktwert lag. Davon wurde zunächst
eine Ausgleichsabgabe in der Höhe der fiktiven Siedlungskosten wie Gebäudeer-
richtung, Elektrifizierung oder Bodenverbesserung an das Deutsche Reich abge-
zogen ; daraus ergab sich der Siedlungsverkehrswert. Später wurde stattdessen der
„mäßige Verkehrswert“, der 10 bis 25 Prozent unter dem „angemessenen Verkehrs-
wert“ lag, veranschlagt. Der Verkaufserlös in Höhe des Siedlungs- oder „mäßi-
gen Verkehrswerts“ gelangte auf ein Auswanderersperrkonto, auf das der oder die
Verkäufer/-in nur mit Zustimmung der Devisenstelle Wien Zugriff hatte. Nach
Abzug von „Arisierungskosten“, „Reichsfluchtsteuer“, „Judenvermögensabgabe“
und allfälligen Steuerschulden blieb vielfach kein Vermögen mehr übrig. Demnach
profitierte von der „Arisierung“, neben dem eigentlichen „Ariseur“, vor allem die
Staatskasse des Deutschen Reiches.49
Der letzte Radikalisierungsschritt der land- und forstwirtschaftlichen „Ent-
judung“ bildete eine Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941,
wonach das gesamten Vermögen jüdischer Staatsbürger/-innen, die ins Ausland
geflohen oder in Ghettos oder Konzentrationslager in den besetzten Gebieten
deportiert worden waren, dem Deutschen Reich verfiel.50 Zusammen mit dem
Vermögensverlust jüdischer Angehöriger des Protektorats Böhmen und Mähren
im November 194251 trieb diese Regelung die völlige Verstaatlichung der noch
in jüdischem Besitz befindlichen Liegenschaften voran. Während Gesamtangaben
für den „arisierten“ Forstbesitz fehlen,52 bezifferte eine von der Oberen Siedlungs-
behörde Ende 1941 erstellte, jedoch lückenhafte Übersicht über den Stand der
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937