Page - 170 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 170 -
Text of the Page - 170 -
170 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
„Das Reichserbhofgesetz wurde in der Ostmark anfangs nicht überall mit Beifall be-
grüßt. Dies ist dadurch begreiflich, daß die Bauernschaft mit ihrem konservativen
Sinn, der allen Neuerungen abhold ist, mancherort ein gewisses Mißtrauen hatte.
Hierzu haben verschiedene Tatsachen beigetragen. Am meisten wurde von bäuerli-
cher Seite anfangs dagegen Stellung genommen, daß das Erbhofrecht das Eigentum
des Bauern in mancher Art einschränke. Erst langsam kämpft sich die Erkenntnis
durch, daß diese Einschränkungen doch nur im ureigenen Interesse der Bauernschaft
verfügt werden.“95
Eine gewisse Gespaltenheit spricht aus dieser Beschreibung : Einerseits erhob der
Autor im Sinn der nationalsozialistischen „Menschenführung“96 den Anspruch,
die Erziehung der „Bauernschaft“ – die ihr „ureigenes Interesse“ verkenne – vor-
anzutreiben. Andererseits nahm er, unter Projektion von Wesenszügen wie „kon-
servativ“, „fortschrittsfeindlich“ und „misstrauisch“, den bäuerlichen Eigensinn zur
Kenntnis. Sinngemäß heißt es, etwas resignierend, 1941 im Leistungsbericht der
Landesbauernschaft Donauland :
„Eine weitere Aufklärungsarbeit über das Reichserbhofgesetz wird noch jahrelang
in erheblichem Umfang nötig sein, da die umwälzenden und weit einschneidenden
Maßnahmen des Reichserbhofgesetzes zum Teil nur langsam, insbesonders in den
Realteilungsgebieten, Eingang in das Rechtsdenken der bäuerlichen Bevölkerung
nehmen können.“97
Aus dieser zwiespältigen Problemwahrnehmung folgten zwei Lösungsvorschläge,
die – ohne die Grundsätze des REG zu verletzten – dem „bäuerlichen Rechts-
denken“ ein Stück weit entgegenkommen sollten. Der erste Vorschlag betraf das
Ehegüterrecht, vor allem den „im Bauerntum der Ostmark tief verwurzelte[n]
Gedanke[n] der Gütergemeinschaft der Ehegatten“.98. Zwar gestattete die Erb-
hofrechtsverordnung Ehegattenerbhöfe für den Ausnahmefall, dass der Hof zum
Zeitpunkt des Inkrafttretens der REG im gemeinschaftlichen Eigentum von Ehe-
gatten stand ; doch beim nächsten Erbgang galt die Regel des Alleinbesitzes.99 In
Niederösterreich war jedoch bis in die Zwischenkriegszeit die eheliche Güterge-
meinschaft die Regel, der Alleinbesitz die Ausnahme.100 Da sich das REG „die-
sem bäuerlichen Rechtsdenken nicht anschließt, ist zu beobachten, daß vielfach
Eheschließungen unterbleiben, die sonst stattgefunden hätten“ ; denn nicht im
Grundbuch eingetragene Witwen und ledige Bauerntöchter als mögliche Erbin-
nen würden kaum heiratswillige Männer finden
– und wenn es doch dazu komme,
dann zeigten die nicht im Grundbuch als Miteigentümer vermerkten Ehemänner
wenig Engagement für die Wirtschaftsführung und seien nur auf ihren eigenen
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937