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189Verbäuerlichung
durch „Entjudung
Pisk in Drösing bis zu 2,8 Millionen Reichsmark für den Gutsbesitz von Gustav
und Wilhelm Löw in Angern und Umgebung, wenn wir von den 3,2 Millionen
Reichsmark für die Hohenauer Zuckerfabrik mit den zugehörigen 18 Hektar
Grund absehen.
Jenseits der materiellen Werte warf die „Entjudung“ im öffentlichen Diskurs
erheblichen ideellen Mehrwert ab. In der Marchfeldstudie der Wiener Deut-
schen Studentenschaft diente der Löwsche Besitz als Paradebeispiel für das zer-
setzende Wirken des „jüdisch-liberalistischen Geistes“, in das eine breite Palette
antijüdischer Klischees einfloss : Der „Jude“, der anfangs als Krämer von Ort zu
Ort gezogen sei, habe es bald als geschickter Viehhändler zu einigem Vermögen
gebracht. Daraufhin habe er vom Grafen Kinsky, dem Besitzer des Angerner Gu-
tes, ein Stück Land gepachtet, dessen profitable Bewirtschaftung das Vermögen
des „Juden“ gemehrt habe. Da der verschuldete Graf gezwungen gewesen sei,
bei seinem Pächter Darlehen um Darlehen aufzunehmen, sei der „Jude“ binnen
weniger Jahre in den Besitz des Gutes gelangt. Als Heereslieferant habe er im
Ersten Weltkrieg mit seinen von Kriegsgefangenen errichteten Fabriken „Un-
summen von Geld“ verdient. Auf diese Weise sei die Grundlage des „deutschen
Bauerntums“ in Angern und Umgebung untergraben worden : Der „Jude“ habe
die Bauernsöhne als Arbeiter in seine Fabrik „abgezogen“ ; zudem habe er bei
Versteigerungen landwirtschaftlicher Güter die „deutschen Käufer“ stets über-
boten ; schließlich seien die verbliebenen Bauern der übermächtigen Konkurrenz
seiner „Mustergüter“ ausgesetzt worden. Am zersetzenden Wirken des „Juden“
werde das „deutsche Volk“ noch lange zu leiden haben : „Wenn auch nun heute
die Güter der Juden unter kommissarischer Leitung der NSDAP stehen und
demnächst wieder von Deutschen genutzt werden, so lebt doch der jüdisch-libe-
ralistische Geist – und das deutsche Bauerntum auf vorgeschobenem Grenzpos-
ten ist krank.“152 Was im Text als antijüdisches Lehrstück begann, endete in der
Realität mit einer „Arisierung“ : Wie im Fall Löw kam bei den größeren Gütern
in der Regel die DAG aufgrund ihres Vorkaufsrechts zur Durchführung bäuerli-
cher Siedlungsverfahren zum Zug ; nur ausnahmsweise konnten Privatpersonen,
Firmen oder öffentliche Körperschaften reüssieren. Hingegen gelangten mitt-
lere und kleinere Besitzungen meist in die Hände privater, großteils bäuerlicher
Bewerber/-innen (Tabelle 3.4). Bereits dieser oberflächliche Überblick lässt ei-
nen engen Zusammenhang zwischen der „Entjudung“ und Verbäuerlichung von
Grundbesitz erkennen. An drei unterschiedlichen Arten von Verfahren können
wir diese Einsicht im Hinblick auf die Strategien der an der „Arisierung“ betei-
ligten Akteure vertiefen.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937