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196 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
vorgelegt werden.181 Nun begannen die Mühlen der Bürokratie der „Entjudung“ zu
mahlen – und sie mahlten langsam. Zwar konnte ein Hindernis für die Genehmi-
gung der Verkäufe, die das Besitzerehepaar zur Abwendung der Zwangsversteige-
rung weiterhin forcierte, bald aus dem Weg geräumt werden : Wegen der Streulage
und der drohenden Zwangsversteigerung verzichtete die DAG bereits im Novem-
ber 1938 auf den Erwerb des Gutes.182 Doch ein anderes Hindernis, die politische
und wirtschaftliche Beurteilung der Kaufwerber/-innen, blieb über Monate beste-
hen, weil NSDAP-Kreisleitung und Kreisbauernschaft mit ihren Stellungnahmen
säumig waren. Die Obere Siedlungsbehörde sprach gar von einer „Verschleppung“
der Angelegenheit und vermutete als Motive der Amtsträger Unschlüssigkeit oder
Vorbehalte gegen einzelne Käufer/-innen.183 Sie drängte auf die rasche Genehmi-
gung der Kaufverträge, um der für Oktober 1939 anberaumten Zwangsversteige-
rung zuvorzukommen ; denn damit wäre das angestrebte Ziel, die „Entjudung“ des
Gutes durch Besitzübertragung in bäuerliche Hände, weitgehend erreicht gewesen.
Gerade noch rechtzeitig konnten die meisten Kaufwerber/-innen auch diese
Anforderung erfüllen – außer den Eheleuten Franz und Maria Rössler, die in der
Nachbargemeinde Orth an der Donau einen 29 Hektar großen Erbhof besaßen.
Zwar genehmigte die Obere Siedlungsbehörde bis Oktober 1939 immerhin 17 von
19 eingebrachten Kaufverträgen – und wendete damit die Zwangsversteigerung
des Gutes ab.184 Die beiden Kaufverträge des Ehepaares über elf und fünf Hektar
wurden jedoch wegen „erheblichen öffentlichen Interesses“ aufgrund der GVB ab-
gelehnt.185 Kreisbauernschaft und Kreisleitung der NSDAP hatten sich gegen die
Genehmigung der Kaufverträge ausgesprochen, angeblich wegen zu hoher Ver-
schuldung.186 Erschwerend kam hinzu, dass sich etwa zur selben Zeit die – mitt-
lerweile von ihrem jüdischen Ehemann geschiedene
– Besitzerin bereit erklärte, im
Fall der Übergabe der Besitzhälfte ihres ehemaligen Ehemannes den Großteil der
verbleibenden Flächen an die DAG für Anlieger- und Neusiedlungsverfahren zu
veräußern.187 Schließlich wurde der Übergabevertrag zwischen Rudolf und Mar-
garete Winternitz – mit zähneknirschendem Einverständnis von NSDAP-Kreis-
leitung und Kreisbauernschaft188 – genehmigt ;189 daher wären von der Absichts-
erklärung der nunmehrigen Alleinbesitzerin wohl auch die beiden Parzellen, über
die Franz und Maria Rössler noch nicht rechtskräftige Kaufverträge abgeschlossen
hatten, betroffen gewesen. Die Eheleute hatten demnach denkbar schlechte Kar-
ten, als sie über ihren Anwalt Beschwerde gegen das abschlägige Urteil der Oberen
Siedlungsbehörde einlegten.
Gegenüber dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das
über die Beschwerde entscheiden musste, argumentierten Franz und Maria Röss-
ler zunächst mit den vollendeten Tatsachen : Sie bewirtschafteten die strittigen
Gründe bereits seit 1936 „ordnungsgemäß“, zunächst pachtweise, das als Käufer/-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937