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201Schollenbindung
oder Parzellenhandel ?
Ähnelte die Erbhofgerichtsbarkeit in den Reichsgauen der Ostmark jener im
„Altreich“ oder zeigte sie deutliche Unterschiede ? Ein Vergleich zwischen dem
niedersächsischen Kreis Stade und dem in Niederdonau gelegenen AGB Eggen-
burg im Kreis Horn liefert Hinweise zur Beantwortung dieser Frage (Tabelle 3.6).
Freilich ist die Vergleichbarkeit der beiden Regionen durch die unausgewogenen
Fallzahlen – 2.595 in Stade und 156 in Eggenburg – und die ungleichen Beob-
achtungszeiträume – 1933 bis 1945 in Stade203 und 1938 bis 1945 in Eggenburg –
eingeschränkt ; doch können wir aus den Verteilungen der Erbhofgerichtsverfahren
zumindest grobe Tendenzen ablesen. Während Verfahren zum Erbhofstatus und
zur Vererbung in beiden Regionen etwa gleich verteilt waren, traten unter den
verhandelten Sachverhalten in Stade Kreditaufnahmen (13,6 bzw. 1,9 Prozent)
und in Eggenburg Bodenmobilität (34,9 bzw. 41,0 Prozent) und Sanktionen (3,2
bzw. 6,4 Prozent) mehr oder weniger deutlich hervor. Das regionale Ungleichge-
wicht der Kreditaufnahmen hing zweifellos mit den ungleich langen Friedenspe-
rioden der NS-Herrschaft im „Altreich“ und in der Ostmark zusammen : In Stade
wurden 1934 bis 1939 grundbücherlich abgesicherte Kredite für Betriebsinvesti-
tionen in großem Umfang beantragt – und überwiegend genehmigt –, bevor im
Zuge der kriegsbedingten Einschränkungen die Zahl der Anträge von Jahr zu Jahr
sank.204 In der Ostmark beschränkte sich die Periode zwischen der Einführung
des REG 1938 und dem Kriegsbeginn 1939 auf etwa ein Jahr. Zudem konnten
Erbhofeigentümer/-innen im Zuge der Entschuldungs- und Aufbauaktion bis
Jahresende 1938 staatliche Zuschüsse und Darlehen beantragen.205 Entsprechend
selten wurden in Eggenburg Anträge zur Aufnahme von Hypothekarkrediten an
das AEG eingebracht.
Wie war das Übergewicht von Bodenmobilitäts- und Sanktionsverfahren in
Eggenburg begründet ? Eine Spur zur Beantwortung dieser Frage legt Ernst Spat-
schil, der mit der Einführung des REG in Niederdonau befasste Abteilungsleiter
der Landesbauernschaft Donauland :
„Bei Prüfung der Frage, ob ein wichtiger Grund für die Veräußerung [einer Parzelle
oder des ganzen Hofes] vorliegt, wird derzeit von den Anerbengerichten in der Ost-
mark meist ein milderer Standpunkt eingenommen, weil wir uns noch in der Über-
gangszeit befinden und eine allzu unnachgiebige Anwendung der einschlägigen ge-
setzlichen Bestimmungen auf die Bauernschaft verstimmend wirken könnte.“206
Der „mildere Standpunkt“ fand in den Urteilssprüchen des AEG Eggenburg sei-
nen Niederschlag (Tabelle 3.7) : Von den 64 Anträgen von Erbhofeigentümer/-
innen betreffend Bodenmobilität, das heißt Verkauf, Tausch oder Verpachtung von
Parzellen oder ganzen Höfen, wurden 61, davon 59 ohne Auflagen, genehmigt ;
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937