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202 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
dem stand nur eine Ablehnung gegenüber. Die Strategie der AEG, in der „Über-
gangsphase“ den Bogen der Zumutungen durch das REG nicht zu überspannen,
bot für Erbhofeigentümer/-innen einen gewissen Anreiz für das Einbringen von
Verkaufs-, Tausch- und Verpachtungsanträgen ; sie widerspricht aber dem Über-
hang an Sanktionsverfahren, die zur Hälfte den Anträgen des Kreis- oder Landes-
bauernführers gegen die Hofeigentümer/-innen Recht gaben. Der auf die Eindäm-
mung bäuerlichen Unmuts ausgelegte Kurs der Anerbengerichte allein reicht nicht
aus, um das Übergewicht von Bodenmobilitäts- und Sanktionsverfahren im AGB
Eggenburg zu erklären.
Auf der Suche nach tragfähigeren Erklärungen lohnt es, die Untersuchungs-
region genauer unter die Lupe zu nehmen. Der AGB Eggenburg lag am Über-
gang des Weinviertels im Nordosten Niederdonaus zum Horner Becken, das land-
schaftlich zum westlich gelegenen Waldviertel, agrarstatistisch zum nach Osten
anschließenden Produktionsgebiet Pannonisches Hügelland gehörte. Der Osten
der Region war durch Zwerg- und Kleinbauernbetriebe mit gemischtem Acker-
und Weinbau geprägt ; im Westen traten Acker- und Forstwirtschaft in mittel- und
großbäuerlichen Betrieben hervor (Abbildung 3.7, Anhang). Die unterschiedli-
chen Agrarsysteme drückten der Erbhofdichte ihren Stempel auf : Während in der
Weinbauzone nur 26 Prozent der Betriebe den Erbhofstatus besaßen, lag dieser
Anteil in den Gemeinden ohne Weinbau bei 36 Prozent. Damit waren unter-
schiedliche Verteilungen der Grundbesitzgrößen verbunden : In den Weinbauge-
meinden bewirtschaftete mehr als die Hälfte der Betriebsbesitzer/-innen weniger
als fünf Hektar Land ; dagegen verfügten in der weinbaulosen Zone mehr als zwei
Drittel über fünf oder mehr Hektar (Tabelle 3.8). Die „Ackernahrung“, der zur
Versorgung einer Bauernfamilie erforderliche Grundbesitz, rangierte im AGB Eg-
genburg etwas über der gesetzlichen Vorgabe von 7,5 Hektar, nämlich zwischen
acht und zehn Hektar. Folglich waren die Mehrheit der Betriebe im Weinbauge-
biet und eine beträchtliche Minderheit der Betriebe im Rest der Region wegen
mangelnder „Ackernahrung“ vom Erbhofstatus ausgeschlossen.
Zwischen den Agrarsystem-Merkmalen und der Verteilung der Erbhofgerichts-
verfahren können wir auffällige Zusammenhänge erkennen (Tabelle 3.9). Verfahren
betreffend Bodenmobilität wurden in den Weinbaugemeinden doppelt so oft be-
antragt als im Rest des AGB (52,9 bzw. 26,8 Prozent) ; die durchschnittliche Zahl
der Verfahren pro 100 Höfen war fast dreimal so groß (24,7 bzw. 8,6 Fälle). Weiters
wurden in der Weinbauzone weitaus häufiger als in den übrigen Gemeinden An-
träge auf Sanktionen eingebracht (10,6 bzw. 1,4 Prozent, 4,9 bzw. 0,5 Fälle pro 100
Höfe). Genauer besehen, trugen Verkauf und Tausch von Grundparzellen sowie
Überprüfungen der „Bauernfähigkeit“ am meisten zu den regionalen Unterschie-
den bei. Folglich dürfte das Übergewicht an Bodenmobilitäts- und Sanktionsver-
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book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937