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226 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
freigesprochen, ihn jedoch wegen Verleitung zur „Unzucht“ strafrechtlich verurteilt
hatte.303 Das AEG erkannte daraufhin Schweinhammer die „Bauernfähigkeit“ ab
und übertrug die Wirtschaftsführung an dessen Ehefrau. Die Frist wurde jedoch
angesichts der Aussicht auf „Besserung“ des Verurteilten sowie zur Erhaltung der
als „anstandslos“ gewerteten Wirtschaftsleistung auf ein Jahr verkürzt.304 In seiner
Beschwerde führte Schweinhammer das in der „Mentalität des Bauern“ verwur-
zelte „erdnahe, triebhafte Wesen in sittlichen Dingen“ gegen das Urteil ins Treffen ;
daher würden Sittlichkeitsdelikte im bäuerlichen Ehrbegriff weitaus milder beur-
teilt als im hierzulande noch nicht „durchgedrungen[en]“ Ehrbegriff des REG.305
Diesen Versuch, zwischen eigensinniger und gesetzlicher Geschlechtermoral zu
unterscheiden, wies das Erbhofgericht Wien als nächsthöhere Instanz zurück ; viel-
mehr nahm es an, dass der „Bauer“ dem Pflichtjahrmädchen „systematisch nach-
stellte“, und sah somit den Tatbestand der „Notzucht“ erfüllt. Im erbhofgerichtli-
chen Urteil wurde die Dauer der „Abmeierung“ auf drei Jahre verlängert.306 In der
neuerlichen Beschwerde räumte Schweinhammer zwar einen Geschlechtsverkehr
mit Anna Maurer ein ; dieser sei jedoch aufgrund der „Avancen“ des Pflichtjahr-
mädchens
– und daher in Übereinstimmung mit der bäuerlichen „Geschlechtsmo-
ral“
– erfolgt. Der Landesbauernführer entgegnete, dass sich der „Bauer“
– auch im
Fall der „Willfährigkeit“ des Pflichtjahrmädchens
– im Hinblick auf das öffentliche
Vertrauen in den Pflichtjahrdienst entsprechende Zurückhaltung auferlegen hätte
müssen. Das letztinstanzliche Urteil des Reichserbhofgerichts in Berlin folgte im
Wesentlichen der Argumentation des Erbhofgerichts ; vor allem unterschied es,
einer städtisch-bürgerlichen Sicht folgend, zwischen der „laxe[n] Auffassung in ge-
schlechtlichen Dingen“ auf dem Lande und den „ehebrecherische[n] Verfehlungen
eines (nach seinen Angaben) glücklich verheirateten Familienvaters im Verhältnis
zu einem dem Kindesalter kaum entwachsenen schutzlosen Mädchen“. Die Tat
Schweinhammers schade dem „Aufbauwerk des Staates, die zwischen Stadt und
Land bestehenden Gegensätze zu überbrücken und die städtische Bevölkerung,
namentlich die Jugend, dem bäuerlichen Aufgaben- und Lebenskreise wieder zu-
zuführen“.307
Um diese Fälle im Kontext gesellschaftlicher Kampffelder zu interpretieren,
werden zwei Bereiche der Alltagspraxis unterschieden : die Vorderbühne, das Ge-
schehen vor Gericht, und die Hinterbühne, das Geschehen am Hof, im Dorf und
in anderen Domänen des dörflichen Alltagslebens. Beide Bereiche waren eng mit-
einander verbunden : Die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens brachte Konflikte,
die auf der alltäglichen Hinterbühne entstanden waren, auf die Vorderbühne. Die
Auftritte der Akteure auf der Bühne des Gerichts
– mochten sie, etwa dem Rat von
Rechtsexperten folgend, noch so strategisch und taktisch inszeniert gewesen sein
–
waren nicht völlig abgetrennt von den Routinen des Alltags hinter den Kulissen,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937