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229Wer
ist (k)ein „Bauer“ ?
ernfähigkeit“ noch nicht aberkannt hatte. Durch die überraschende Heirat gelang
es dem „Bauern“ im Berufungsverfahren, den Landesbauernführer zum Rückzug
des Antrags auf „Abmeierung“ und zur Einstellung des Verfahrens zu bewegen. Im
vierten Fall suchte der wegen „Unzucht“ verurteilte „Bauer“ den Vorwurf der „Ehr-
losigkeit“ durch eine milieugebundene „Geschlechtsmoral“, die der vorgeblichen
Triebhaftigkeit männlicher Sexualität folgte, zu entkräften. Darin äußern sich das
juristische Kalkül des Anwalts, durch Bezugnahme auf die bäuerliche „Standes-
ehre“ das Ersturteil auszuhebeln, sowie die milieunahe Ansicht des Erbhofeigentü-
mers, die Entfesselung des männlichen Sexualtriebes sei eine naturhafte Reaktion
auf den Reiz weiblicher Verführung. Das AEG hatte die beantragte Dauer der
„Abmeierung“, nicht zuletzt aufgrund der guten Ablieferungsleistungen des Erb-
hofs, verringert. Gegenüber dieser pragmatischen, an den kriegswirtschaftlichen
Erfordernissen orientierten Linie argumentierten die höheren Gerichtsinstanzen
in diesem Fall merklich dogmatischer. Sie stellten die Verbindung von Stadt und
Land durch das „Landjahr“ – und den damit verbundenen Appell zur Selbstdis-
ziplinierung – über die Trennung von ‚wilder‘ ländlicher und ‚zivilisierter‘ städti-
scher Auffassung von Sexualität. In allen Fällen wurde das symbolische Kapital der
„Bauernfähigkeit“ an formellen und informellen Zuschreibungen von Geschlech-
terpositionen bemessen. Folglich erscheint Geschlecht als eine – wenn nicht die –
zentrale Dimension von Auseinandersetzungen um das Erbhofeigentum.311
Viertens lassen alle Fälle die Hinterbühne als Katalysator für das Geschehen auf
der Vorderbühne erscheinen. Dazu zählte vor allem der Mangel an Arbeitskräften,
der die vor Gericht verhandelten Tatbestände tangierte
– zumindest als Rechtferti-
gungsargument gegenüber Angriffen, meist aber als offensichtlicher Notstand. Im
ersten Fall wurden die zehn Hektar Land vom Hofeigentümer und dessen Vater
bewirtschaftet. Seit 1939 beschäftigte man keine Dienstboten mehr ; zudem waren,
den Aussagen vor Gericht zufolge, Taglöhner/-innen kaum verfügbar. Im zweiten
Fall war der 90-jährige Schwiegervater die einzige Hilfe der Eigentümerin des 15
Hektar großen Erbhofes. Zusätzliche Arbeitskräfte wurden nicht beschäftigt, teils
wegen der Angst der Hofeigentümerin vor „fremdvölkischen“ Arbeitskräften, teils
wegen mangelnder Unterstützung vonseiten der Nachbarhöfe. Im dritten Fall war
der Arbeitskräftebesatz des 23 Hektar umfassenden Erbhofes von neun auf drei
ständig Beschäftigte geschrumpft. Vor allem die Abwesenheit des Ehemannes ver-
schärfte den Mangel an im Umgang mit dem Pferdefuhrwerk geübtem Personal.
Im vierten Fall verfügen wir über keine Informationen über die Zahl der Arbeits-
kräfte auf den beiden Erbhöfen im Umfang von 54 Hektar ; doch die Zuweisung
eines Pflichtjahrmädchens weist auf einen Mangel an Arbeitskräften hin. Der von
der Vierjahresplanbehörde 1938 verordnete Pflichtjahrdienst verlangte Frauen
bis zum Alter von 25 Jahren eine einjährige Berufstätigkeit in der Land- oder
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937